EuGRZ
31. August 2021
48 Jg. Heft 13-16

Informatorische Zusammenfassung

Greta Reeh, Potsdam, setzt sich mit herausragenden Entscheidungen des UN-Ausschusses für Menschenrechte von 2019 und 2020 auseinander
Die Autorin geht detailliert auf Sachverhalte und Entscheidungsbegründungen des UN-AMR in folgenden Fällen ein: • Verschwinden eines Familienangehörigen in jüngster Zeit (Padilla gegen Mexiko) – stattgegeben in allen Beschwerdepunkten, • Verschwinden von Familienangehörigen während des Spanischen Bürgerkrieges (M.J.V. und A.A.M. gegen Spanien) – abgewiesen wegen Unzuständigkeit ratione temporis, • lebensbedrohender Einsatz von Pestiziden (Portillo Cáceres gegen Paraguay) – stattgegeben, Reichweite des Rechts auf Leben in Würde, • Klimawandel, Refoulementverbot (Teitiota gegen Neuseeland) – Bf. ist Bürger des Inselstaates Kiribati, der dem drohenden Versinken im Meer entfliehen wollte und zurückgeschickt wurde – keine Verletzung des Refoulementverbots, dennoch Hinweis des UN-AMR auf „fortdauernde Verantwortung“ Neuseelands zur Überprüfung der Entwicklung der Situation in Kiribati, • Recht eines Kindes auf Erwerb einer Staatsangehörigkeit (D.Z. gegen Niederlande) – Beweislast der Staatenlosigkeit nicht allein bei der betroffenen Person, sondern auch beim Vertragsstaat; Hintergrund: mehr als 70.000 Personen in den Niederlanden, deren Staatsangehörigkeit als „unbekannt“ registriert ist; • Seenotrettung, Fragen der Hoheitsgewalt (A.S. u.a. gegen Italien und A.S. u.a. gegen Malta) – zwei innerhalb des UN-AMR selbst hoch umstrittene Fälle.
Reeh stellt abschließend fest: Die Entscheidungen des UN-AMR «zum Themenkomplex Umweltschutz, Klimawandel und Menschenrechte (…) sowie seine Entscheidung zum Recht auf Erwerb einer Staatsangehörigkeit (…) können künftig anderen Menschenrechtsschutzorganen auf universeller sowie auf regionaler Ebene als Orientierung dienen. (…)
Derzeit ist eine Individualbeschwerde gegen Australien vor dem Ausschuss anhängig, die erstmals einem Staat explizit Untätigkeit angesichts drohender Folgen des Klimawandels vorwirft. Somit hat der Ausschuss hier die Möglichkeit, dem australischen Staat detaillierte Handlungsempfehlungen zu geben, die wiederum einer Vielzahl anderer Staaten als allgemeine, verlässliche Richtlinien dienen können. Auch mit Blick auf eine derzeit beim EGMR anhängige Beschwerde ist dieses Verfahren interessant.
Allerdings ist die Ausweitung der Zuständigkeit des UN-AMR und des materiellen Schutzbereichs von Rechten aus dem IPBPR nicht immer zielführend. Der UN-AMR bedient sich vermehrt anderer völkerrechtlicher Verträge, um die vertragsstaatlichen Pflichten aus dem IPBPR zu bestimmen. Eine solche Auslegung der Paktrechte im Lichte anderer Rechtspflichten der Vertragsstaaten wirkt oft sinnvoll (…). Dagegen erscheint ein Rekurs auf die Existenz seerechtlicher Kooperationspflichten zur Ausweitung des Begriffs der Hoheitsgewalt eher fragwürdig.
Die Vielzahl an Sondervoten (insbes. im Seenotrettungsfall A.S. u.a. gegen Italien) erklärt sich nicht nur aus der Komplexität der Rechtsfragen, sondern auch angesichts der menschlichen Tragödie. Sondervoten können oft helfen, die Entscheidungen des Ausschusses verständlicher zu machen und die Pflichten, die der Ausschuss mit der Entscheidung verknüpft, zu konkretisieren, wenn auch in der seit 2014 von der UN- Generalversammlung verfügten Kürze. Bezogen auf den Fall A.S. u.a. gegen Italien ist zu bedauern, dass keines der sieben Sondervoten verdeutlicht, ob und inwieweit sich einzelfallunabhängige Pflichten aus dem IPBPR ergeben. Es bleibt zu hoffen, dass der UN-AMR seine Staatenberichtsverfahren und Follow-Up-Verfahren hierzu nutzen wird.» (Seite 353)

Lorenz Dopplinger, Wien, untersucht neue Fragen „An den Grenzen der Grundrechte – Zur extraterritorialen Grundrechtsbindung des Staates nach der EMRK“
Der Focus des Autors ist auf die „Entgrenzung staatlicher Aktionsradien“ gerichtet: «Anfang des 21. Jahrhunderts avancierte der räumliche Geltungsbereich der Grund- und Menschenrechte zu einem zentralen Thema, aus verschiedenen, wenngleich eng verwobenen Gründen: In einer zunehmend verflochtenen und globalisierten Welt verschwimmt die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenpolitik; Vorgänge in weit entfernten Regionen der Erde werden als unmittelbare Bedrohungen der eigenen Interessen erachtet, die zu offenen Interventionen oder subtileren Formen der Einflussnahme verleiten. Insbesondere im „Krieg gegen den Terror“ reihen sich seit zwei Jahrzehnten Militäreinsätze westlicher Staaten lückenlos aneinander, etwa in Afghanistan, Pakistan, im Irak, in Syrien, dem Jemen, in Somalia und Mali. Zugleich fällt es den Staaten laufend leichter, außerhalb ihres Territoriums zu agieren, wobei ihre Handlungsoptionen immer vielfältiger und niederschwelliger werden: Heute ist es nicht mehr erforderlich, Truppen oder Agenten ins Ausland zu entsenden, um dort Gewalt auszuüben oder Informationen zu ermitteln – das erledigen inzwischen teils ferngesteuerte Drohnen. Dazu kommen Cyberangriffe auf kritische Infrastrukturen, digitale Überwachung, Desinformation und andere Formen der Manipulation, die oft nicht einmal einen physischen Grenzübertritt erfordern. Ergänzt werden die eigenen Operationen durch rege internationale Datenströme zwischen Nachrichtendiensten und Sicherheitsbehörden sowie andere Formen zwischenstaatlichen Zusammenwirkens.
Inwieweit sind die Staaten bei all dem an Grund- und Menschenrechte gebunden? Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten, vielmehr ist auf mehreren Ebenen zu differenzieren: (…)
So hat der EGMR in seiner jüngeren Rechtsprechung spezifisch für extraterritoriale Sachverhalte ausgesprochen, die Konventionsrechte könnten „divided and tailored“ werden, womit er sich von einem binären „Alles oder nichts“-Anwendungsprinzip verabschiedet und den Weg für grundrechtsspezifische Abstufungen freigemacht hat. Außerdem differenziert der EGMR neuerdings zwischen verschiedenen Gewährleistungsgehalten ein und desselben Konventionsrechts: Unter gewissen Umständen erachtet er Todesfälle als von der verfahrensrechtlichen Untersuchungspflicht nach Art. 2 EMRK erfasst, obwohl er die Tötungshandlung selbst schon mangels Jurisdiktionsverhältnis nicht an den materiellen Anforderungen des Art. 2 EMRK misst. Dogmatische Ansatzpunkte, um eine zunehmend anachronistisch anmutende territoriale Engführung der Grundrechte zu überwinden, liegen insofern auf dem Tisch. Wie die entterritorialisierten Schutzkonzepte des BVerfG und des UN-AMR zeigen, wäre der EGMR hierbei nicht allein auf weiter Flur, sondern in guter Gesellschaft.
Erst jüngst boten zwei Verfahren die Gelegenheit, zumindest für den praktisch hoch relevanten Bereich der digitalen Massenüberwachung Leitpflöcke der Grundrechtsgeltung einzuschlagen. Sowohl Big Brother Watch u.a. gegen das Vereinigte Königreich als auch Centrum för rättvisa gegen Schweden [Urteile vom 25.5.2021] betrafen nachrichtendienstliche Überwachungsprogramme, die primär auf auslandsbezogene Kommunikation abzielten. In beiden Fällen erlaubten die spezifischen Verfahrenskonstellationen dem EGMR jedoch, das heikle Thema der extraterritorialen Grundrechtsgeltung vergleichsweise elegant zu umschiffen. (…)
Letztlich bleibt die Reichweite der Konventionsgarantien im digitalen Raum nach Big Brother Watch und Centrum för rättvisa aber ungewiss. So ist zu hoffen, dass der EGMR die nächste Chance nützt, seine Position zu verdeutlichen.» (Seite 359)

Stefan Haack, Frankfurt/Oder, behandelt „Die Corona-Pandemie und das Abweichen von Konventionsrechten gem. Art. 15 EMRK bei Vorliegen eines Notstands“
Ausgehend von dem Befund, dass von den 47 Vertragsstaaten der EMRK bisher lediglich 10 Staaten von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, eine Derogationserklärung gem. Art. 15 EMRK abzugeben, befasst sich der Autor insbesondere mit der Frage, welche pandemiebedingten Einschränkungen im Sinne der bisherigen EGMR-Rechtsprechung als „unbedingt erforderlich“ anzusehen sind. Aus dem EGMR-Urteil im Fall A. u.a. gegen Vereinigtes Königreich vom 19.2.2009, Ziff. 177, werde deutlich, dass der Gerichtshof den Staaten durchaus einen weiten Beurteilungsspielraum zubilligt, um auf außergewöhnliche Situationen zu reagieren: „… a State [is not required] to wait for disaster to strike before taking measures to deal with it“.
Bezogen auf die Frage, inwieweit das Recht auf Privatleben (Art. 8 EMRK) durch eine ev. Impfpflicht verletzt sein könnte, geht der Autor auf das Urteil des EGMR vom 8. April 2021 im Fall Vavricka u.a. gegen Tschechien ein: «Zwar wird eine solche Pflicht als Eingriff in Art. 8 EMRK angesehen, jedoch stehe den Vertragsstaaten im Bereich der Gesundheitspolitik ein weiter Beurteilungsspielraum zu. Zur Rechtfertigung einer Impfpflicht fordert der Gerichtshof „a pressing social need“ und „relevant and sufficient reasons“; auch sei eine solche Anordnung auf ihre Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen. Im Ergebnis erachtete der EGMR die tschechische Regelung zur Impfpflicht für vereinbar mit Art. 8 EMRK. Gemessen an diesen Vorgaben ist vorstellbar, dass auch eine Impfpflicht gegen das Corona-Virus mit der EMRK im Einklang stehen könnte, wobei es auf die epidemiologische Gesamtsituation und die konkrete Ausgestaltung (hinsichtlich der erfassten Bevölkerungsgruppen und der verwendeten Impfstoffe) ankommt. Im Hinblick auf Art. 15 EMRK ist der Entscheidung des EGMR zu entnehmen, dass Impfpflichten bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen auch ohne eine Derogation von Art. 8 EMRK zu rechtfertigen sind. Im konkreten Fall ist zu beachten, dass die verweigerte Impfung in Tschechien bußgeldbewehrt, aber nicht zwangsweise durchsetzbar war.»
Schließlich: «Auch sollte man sich vor Augen halten, dass die Notifikation einer Derogation nach Art. 15 Abs. 3 EMRK dazu beitragen kann, die rechtliche Ausnahmesituation – für andere Staaten, aber auch für das eigene Volk – als solche erkennbar zu machen. In der Geschichte des modernen Verfassungsstaates ist es häufig gerade die Auflösung oder Verschleierung dieser Unterscheidung zwischen Normalität und Notstand gewesen, die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Gefahr gebracht hat. Möglicherweise hat der Gedanke, dass der rechtliche Normalzustand ein kostbares und gefährdetes Gut ist, bei einigen der Staaten, die im Zuge der Corona-Pandemie Derogationserklärungen notifiziert haben, eine Rolle gespielt. (…)
Die Erklärung der Derogation gemäß Art. 15 EMRK entfaltet damit, zumindest im Falle der Pandemiebekämpfung, eher eine politische als eine juristische Wirkung.» (Seite 364)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, erklärt Corona-bedingte allgemeine landesweite Ausgangssperre in ihrer konkreten Ausgestaltung (hier: in Rumänien) für konventionskonform / Terheş, gegen Rumänien
«Der Gerichtshof stellt sodann fest, dass die im vorliegenden Fall gerügte Maßnahme wegen der Gesundheitsumstände, die die nationalen Behörden als schwerwiegend und dringlich beurteilt haben, mit dem Ziel ergriffen wurde, die gesamte Bevölkerung zu isolieren und abzuriegeln.»
Der Gerichtshof stellt weiter fest: « …, dass der Bf. durchaus die Freiheit hatte, seine Wohnung aus verschiedenen Gründen zu verlassen, und dass er sich während des Tages zu Zeiten, an denen sich dies als notwendig erwies, an verschiedene Orte begeben konnte (…). Er wurde auch nicht von den Behörden persönlich überwacht. Er hat nicht vorgetragen, gezwungen gewesen zu sein, an einem beengten Ort zu leben und keine sozialen Kontakte pflegen zu können. (…)
Angesichts der vorstehend dargelegten Fakten, gelangt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, das der Grad der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit des Bf. nicht die Intensität erreicht, die es erlauben würde anzunehmen, die von den Behörden verfügte allgemeine Ausgangssperre habe eine Freiheitsentziehung dargestellt.» (Seite 370)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, sieht die Unabhängigkeit der Justiz in Rumänien durch vielfältige Disziplinarregelungen bedroht / Verb. Rsn. Asociaţia Forumul Judecǎutorilor din România u.a.
Aus den von der Großen Kammer (GK) zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen sechs Vorlagen (von zwei Landgerichten und vier Berufungsgerichten) geht hervor, dass die von der Regierung mit großem Nachdruck betriebene Justizreform dem Ziel dient, Richter und Staatsanwälte einzuschüchtern und so die Justiz politisch gefügig zu machen.
Hierzu gehört auch die im Schnellverfahren – ohne das im nationalen Recht vorgesehene ordentliche Berufungsverfahren – erfolgte und deshalb als „vorläufig“ deklarierte personelle Besetzung neuer Leitungsstellen mit weitreichenden Vollmachten.
So geht es ferner u.a. um die Errichtung einer auf die Justiz spezialisierten (und personell bewußt unterbesetzten) Abteilung der Staatsanwaltschaft, des Weiteren um die neu eingeführte persönliche Haftung von Richtern für Schäden durch „Justiz- Irrtum“ und dessen Feststellungsverfahren ohne Anhörung des betroffenen Richters sowie um Regressklagen zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit. (Seite 373)

EuGH (GK) gibt der Vertragsverletzungsklage der Kommission gegen Polen wegen Verletzung der Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit durch die neue Disziplinarordnung für Richter statt / Kommission gegen Polen
Der EuGH sieht schwerwiegende Verletzungen des unionsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips u.a. darin, dass der Inhalt von Gerichtsentscheidungen zur disziplinarrechtlichen Verfolgung von Richtern herangezogen werden kann. Er sieht die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Disziplinarkammer beim Obersten Gerichtshof nicht gewährleistet.
Es ist dem Urteil des EuGH zufolge auch nicht gewährleistet, dass Disziplinarverfahren gegen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit innerhalb angemessener Frist und unter Beachtung der Verteidiungsrechte der beschuldigten Richter entschieden werden.
Schließlich: «Die Republik Polen hat dadurch, dass sie zulässt, dass das Recht der Gerichte, sich mit Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union zu wenden, durch die Möglichkeit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens eingeschränkt wird, gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV verstoßen.» (Seite 399)

EuGH (GK) billigt Verbot des islamischen Kopftuchs am Arbeitsplatz bei erklärter allgemeiner Neutralitätspolitik des Arbeitgebers als zulässig / Verb. Rsn. WABE und Müller
Die Kriterien des EuGH lauten u.a.: «Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, mit dem Willen des Arbeitgebers gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität gegenüber seinen Kunden oder Nutzern zu verfolgen, sofern erstens diese Politik einem wirklichen Bedürfnis des Arbeitgebers entspricht, das der Arbeitgeber unter Berücksichtigung insbesondere der berechtigten Erwartungen dieser Kunden oder Nutzer und der nachteiligen Konsequenzen, die der Arbeitgeber angesichts der Art seiner Tätigkeit oder des Umfelds, in dem sie ausgeübt wird, ohne eine solche Politik zu tragen hätte, nachzuweisen hat, zweitens die Ungleichbehandlung geeignet ist, die ordnungsgemäße Anwendung des Neutralitätsgebots zu gewährleisten, was voraussetzt, dass diese Politik konsequent und systematisch befolgt wird, und drittens das Verbot auf das beschränkt ist, was im Hinblick auf den tatsächlichen Umfang und die tatsächliche Schwere der nachteiligen Konsequenzen, denen der Arbeitgeber durch ein solches Verbot zu entgehen sucht, unbedingt erforderlich ist.»
Die Arbeitgeber in den Ausgangsverfahren sind ein Verein, der eine große Anzahl von Kindertagesstätten in Deutschland betreibt mit mehr als 600 Beschäftigten und ca. 3.500 betreuten Kindern (WABE) und die Drogeriemarktkette Müller Handels GmbH. (Seite 421)

EuGH (GK) zur Reichweite des Verbots der Doppelbestrafung (ne bis in idem, Art. 50 GRCh) nach einem Festnahme-Ersuchen eines Drittstaats (hier: USA) per Red Notice bei Interpol / Rs. WS
Die von den USA beantragte Red Notice richtet sich gegen den deutschen Staatsangehörigen WS wegen des Vorwurfs der Bestechung. WS beruft sich auf einen Strafklageverbrauch durch rechtskräftigen Einstellungsbeschluss einer deutschen Staatsanwaltschaft gegen Zahlung eines Geldbetrags und klagt vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden, damit die Red Notice getilgt wird und er von seinem Recht auf Freizügigkeit in der EU unbehelligt Gebrauch machen kann.
Der EuGH erkennt den Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft grundsätzlich an, weist jedoch darauf hin, dass eine Festnahme im Schengen-Raum möglich bleibt, solange nicht gerichtlich erwiesen ist, dass es dieselben Taten sind, auf die sich die Red Notice und der staatsanwaltliche Einstellungsbeschluss beziehen. (Seite 431)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erteilt nach Suizid im Polizeigewahrsam Ermächtigung zur Strafverfolgung von fünf Polizeibeamten wegen fahrlässiger Tötung / Revision zur Umsetzung eines EGMR-Urteils
Der EGMR (Urteil vom 30. Juni 2020, Nr. 23405/16) hatte die Rüge der Mutter des durch Suizid in einer polizeilichen Abstandszelle Verstorbenen für begründet erklärt, insoweit als gegen die fünf jeweils diensthabenden Polizeibeamten keine Strafuntersuchung wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung mangels gerichtlicher Ermächtigung eingeleitet worden war.
Das BGer revidiert aufgrund des EGMR-Urteils seine frühere nicht stattgebende Entscheidung vom 14. Oktober 2015 und erteilt die Ermächtigung zur Eröffnung eines Strafverfahrens. In dem Urteil des BGer heißt es:
«Das Delikt, das den fünf angezeigten Polizeibeamten vorgeworfen wird, eine fahrlässige Tötung im Sinne von Art. 117 StGB, wiegt nicht leicht. Ob und inwieweit sich jeder einzelne Polizeibeamte durch seine Handlungen strafbar gemacht hat, wird im Strafverfahren näher zu prüfen sein. Im vorliegenden Verfahrensstadium lässt sich vor dem Hintergrund der Ausführungen des EGMR der für die Ermächtigung zur Strafverfolgung notwendige, minimale Anfangsverdacht bei keinem der angezeigten Polizeibeamten vorweg verneinen. Der Ermächtigung zur Strafverfolgung entgegenstehende Gründe liegen keine vor. Mit einer solchen Ermächtigung zur Strafverfolgung ist keine Vorverurteilung verbunden. Die beteiligten Polizeibeamten stehen unter dem Schutz der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV). Es geht lediglich darum, dass die gegen sie erhobenen Vorwürfe näher abgeklärt werden.» (Seite 441)

EuGH (GK) billigt Verbot des islamischen Kopftuchs am Arbeitsplatz bei erklärter allgemeiner Neutralitätspolitik des Arbeitgebers als zulässig / Verb. Rsn. WABE und Müller
Die Kriterien des EuGH lauten u.a.: «Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine mittelbare Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung, die sich aus einer internen Regel eines Unternehmens ergibt, die den Arbeitnehmern das Tragen jedes sichtbaren Zeichens politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, mit dem Willen des Arbeitgebers gerechtfertigt werden kann, eine Politik politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität gegenüber seinen Kunden oder Nutzern zu verfolgen, sofern erstens diese Politik einem wirklichen Bedürfnis des Arbeitgebers entspricht, das der Arbeitgeber unter Berücksichtigung insbesondere der berechtigten Erwartungen dieser Kunden oder Nutzer und der nachteiligen Konsequenzen, die der Arbeitgeber angesichts der Art seiner Tätigkeit oder des Umfelds, in dem sie ausgeübt wird, ohne eine solche Politik zu tragen hätte, nachzuweisen hat, zweitens die Ungleichbehandlung geeignet ist, die ordnungsgemäße Anwendung des Neutralitätsgebots zu gewährleisten, was voraussetzt, dass diese Politik konsequent und systematisch befolgt wird, und drittens das Verbot auf das beschränkt ist, was im Hinblick auf den tatsächlichen Umfang und die tatsächliche Schwere der nachteiligen Konsequenzen, denen der Arbeitgeber durch ein solches Verbot zu entgehen sucht, unbedingt erforderlich ist.»
Die Arbeitgeber in den Ausgangsverfahren sind ein Verein, der eine große Anzahl von Kindertagesstätten in Deutschland betreibt mit mehr als 600 Beschäftigten und ca. 3.500 betreuten Kindern (WABE) und die Drogeriemarktkette Müller Handels GmbH. (Seite 421)

EuGH (GK) zur Reichweite des Verbots der Doppelbestrafung (ne bis in idem, Art. 50 GRCh) nach einem Festnahme-Ersuchen eines Drittstaats (hier: USA) per Red Notice bei Interpol / Rs. WS
Die von den USA beantragte Red Notice richtet sich gegen den deutschen Staatsangehörigen WS wegen des Vorwurfs der Bestechung. WS beruft sich auf einen Strafklageverbrauch durch rechtskräftigen Einstellungsbeschluss einer deutschen Staatsanwaltschaft gegen Zahlung eines Geldbetrags und klagt vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden, damit die Red Notice getilgt wird und er von seinem Recht auf Freizügigkeit in der EU unbehelligt Gebrauch machen kann.
Der EuGH erkennt den Einstellungsbeschluss der Staatsanwaltschaft grundsätzlich an, weist jedoch darauf hin, dass eine Festnahme im Schengen-Raum möglich bleibt, solange nicht gerichtlich erwiesen ist, dass es dieselben Taten sind, auf die sich die Red Notice und der staatsanwaltliche Einstellungsbeschluss beziehen. (Seite 431)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, erteilt nach Suizid im Polizeigewahrsam Ermächtigung zur Strafverfolgung von fünf Polizeibeamten wegen fahrlässiger Tötung / Revision zur Umsetzung eines EGMR-Urteils
Der EGMR (Urteil vom 30. Juni 2020, Nr. 23405/16) hatte die Rüge der Mutter des durch Suizid in einer polizeilichen Abstandszelle Verstorbenen für begründet erklärt, insoweit als gegen die fünf jeweils diensthabenden Polizeibeamten keine Strafuntersuchung wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung mangels gerichtlicher Ermächtigung eingeleitet worden war.
Das BGer revidiert aufgrund des EGMR-Urteils seine frühere nicht stattgebende Entscheidung vom 14. Oktober 2015 und erteilt die Ermächtigung zur Eröffnung eines Strafverfahrens. In dem Urteil des BGer heißt es:
«Das Delikt, das den fünf angezeigten Polizeibeamten vorgeworfen wird, eine fahrlässige Tötung im Sinne von Art. 117 StGB, wiegt nicht leicht. Ob und inwieweit sich jeder einzelne Polizeibeamte durch seine Handlungen strafbar gemacht hat, wird im Strafverfahren näher zu prüfen sein. Im vorliegenden Verfahrensstadium lässt sich vor dem Hintergrund der Ausführungen des EGMR der für die Ermächtigung zur Strafverfolgung notwendige, minimale Anfangsverdacht bei keinem der angezeigten Polizeibeamten vorweg verneinen. Der Ermächtigung zur Strafverfolgung entgegenstehende Gründe liegen keine vor. Mit einer solchen Ermächtigung zur Strafverfolgung ist keine Vorverurteilung verbunden. Die beteiligten Polizeibeamten stehen unter dem Schutz der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV). Es geht lediglich darum, dass die gegen sie erhobenen Vorwürfe näher abgeklärt werden.» (Seite 441)

BGer bekräftigt die grundsätzliche Öffentlichkeit von strafrechtlichen Gerichtsverhandlungen auch in der Berufungsinstanz
«Art. 406 StPO entbindet das Berufungsgericht nicht davon, im Einzelfall zu prüfen, ob der Verzicht auf die öffentliche Verhandlung mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist. Nach der Rechtsprechung des EGMR soll die angeklagte Person grundsätzlich erneut angehört werden, wenn in der Berufungsinstanz das erstinstanzliche Urteil aufgehoben wird und der Aufhebung eine andere Würdigung des Sachverhalts zugrunde liegt.» (Seite 445)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, lehnt Erlass einer Vollstreckungsanordnung nach PSPP-Urteil vom 5. Mai 2020 (Ultra-vires-Urteil) ab
Die beiden Leitsätze des Zweiten Senats (Beschluss vom 29. April 2021) lauten: «Die Grenzen einer zulässigen Vollstreckungsanordnung gemäß § 35 BVerfGG ergeben sich aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) und der notwendigen Anknüpfung des Verfassungsprozessrechts an den Verfahrens- beziehungsweise Streitgegenstand und stellen insoweit verallgemeinerungsfähige Anforderungen dar, die für die verfassungsgerichtliche Kontrolle aller Verfassungsorgane und Handlungsformen gelten.
Nach Erlass der Sachentscheidung ergangene Maßnahmen sind kein tauglicher Gegenstand von Vollstreckungsanordnungen nach § 35 BVerfGG. Andernfalls würde die ursprüngliche Sachentscheidung ergänzt und erweitert, weil auch die neue rechtliche Situation analysiert und verfassungsrechtlich gewürdigt werden müsste.» (Seite 448)

Rainer Hofmann und Alexander Heger äußern sich in ihrer Anmerkung kritisch zum vorstehenden Beschluss vom 29.4.2021
So sei es problematisch, dass sich das BVerfG trotz der dogmatisch eindeutigen Unzulässigkeit des Antrags auf Vollstreckungsanordnung auf Ausführungen zur Begründetheit einlässt. Des Weiteren dürfe die Autorität des EuGH (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV) mittels der überzogenen Auslegung der nationalen Integrationsverantwortung nicht unterlaufen werden. Und schließlich würde durch die Begründung vom 29. April 2021 noch unklarer, warum das BVerfG sich in dem PSPP-Verfahren zu dem Vorgehen der Ultra-vires-Erklärung entschieden hat. (Seite 460)

BVerfG lässt das erneute Zustimmungsgesetz zum Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ-ZustG II) unbeanstandet
«Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 BVerfGG sind zurückzuweisen, weil die Verfassungsbeschwerden in der Hauptsache unzulässig sind. Das gilt sowohl soweit die Beschwerdeführer eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips, des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz oder Verstöße gegen das Unionsrecht rügen (I.), als auch, soweit der Beschwerdeführer zu I.1. in der Regelung des Art. 20 EPGÜ eine unzulässige Berührung der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität sieht (II.).» (Seite 462)

BVerfG stellt richterliche Befangenheit durch ausufernde fremdenfeindliche Äußerungen in einem früheren Urteil fest
Die Ablehnung des Befangenheitsantrags sei offensichtlich unhaltbar und damit willkürlich. (Seite 472)

EMRK-Änderungsprotokoll Nr. 15 seit 1. August 2021 in Kraft – Betonung der Subsidiarität des Straßburger Verfahrens und des Beurteilungsspielraums (margin of appreciation) der EMRK-Vertragsstaaten bei der Umsetzung der Konvention / Verkürzung der Sechs-Monats-Frist für die Einlegung einer Individualbeschwerde auf vier Monate / Altersgrenze der EGMR-Richter auf 74 Jahre angehoben. (Seite 475/477)

EGMR-Richterwahlen – D. Derenčinović künftiger kroatischer Richter (Seite 479)

EGMR – Drei Gruppen von insgesamt 12 Beschwerden gegen weitreichende Verschärfung der Bestimmungen über einen legalen Schwangerschaftsabbruch durch Verfassungsgericht in Polen vom EGMR am 1. Juli 2021 zugestellt / K.B. u.a. gegen Polen
Die Bf. rügen die Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens). Sie sehen sich als potentielle Opfer einer Rechtsverletzung, insofern sie – ob gegenwärtig oder künftig schwanger – wegen der Unmöglichkeit, bei fötalen Anomalien einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen, gezwungen sind, die Schwangerschaft fortzusetzen.
Sie rügen ebenfalls, dass die eingeführten Beschränkungen nicht gesetzlich vorgesehen waren, da das Verfassungsgericht in Bezug auf drei seiner Richter rechtswidrig zusammengesetzt und außerdem auch nicht unabhängig war.
Insgesamt sind hierzu ca. 1.000 Verfahren in Straßburg anhängig. (Seite 480)