EuGRZ
29. Oktober 2021
48 Jg. Heft 17-20

Informatorische Zusammenfassung

Marie-Christine Fuchs, Bogotá/Berlin und Jenny Zamora Gonzalez, Leipzig, kommentieren „Neue Rechtsprechung aus San José – Grundlegende Entscheidungen des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte 2020/2021
Die Autorinnen haben zwei Gutachten (OC-26/20 und OC-28/21) und vier Urteile des IAGMR für Ihre Betrachtungen ausgewählt und verbinden die behandelten Themenkomplexe stets auch mit ausführlichen weiterführenden Literaturhinweisen. Die gutachterliche Tätigkeit hat in der Vergangenheit zunehmend an Bedeutung gewonnen, weil sie dem Gerichtshof Gelegenheit bietet, «über strukturelle und grundlegendere rechtspolitische Themen und Fragestellungen zur Umsetzung der AMRK zu entscheiden». Die ausgewählten Gutachten hatten erhebliche politische Brisanz, und der Gerichtshof hielt es für erforderlich – wie auch schon in früheren Fällen –, die ihm gestellten Fragen teilweise umzuformulieren, um sich im Rahmen seiner Kompetenzen zu halten. • Die Urteilsauswahl behandelt (1) Recht auf Arbeit und Arbeitnehmerschutz nach der tödlichen Explosion in einer Feuerwerkskörperfabrik in Brasilien, (2) territoriale Rechte indigener Bevölkerungen in Argentinien, (3) sexuelle Gewalt von Lehrern an Schülerinnen in Ecuador, (4) Rechte von Transsexuellen in Honduras. So stellt das Urteil gegen Argentinien «einen signifikanten Meilenstein für den Schutz indigener Rechte dar». Die Fall-Analyse bietet u.a. Gelegenheit, auf Fortentwicklungslinien der Rechtsprechung zu WSKU-Rechten – wirtschaftliche, soziale, kulturelle und Umweltrechte – hinzuweisen. «Seit einigen Jahren wird auf Ebene des interamerikanischen Menschenrechtssystems durchgängig nicht mehr nur von WSK-Rechten, sondern von WSKU-Rechten gesprochen. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass der IAGMR und die IAKMR… auch das Recht auf eine gesunde Umwelt in diese Gruppemit einordnen. » Die Besprechung der vier Urteile wird jeweils gegliedert in: Sachverhalt, Zulässigkeit, Begründetheit, Rechtsfolgenentscheidung und zusammenfassende Würdigung. • Das auf Antrag Kolumbiens erstattete Gutachten OC-26/20 zur «Kündigung der AMRK und der Charta der OAS und ihre Auswirkungen auf staatliche Menschenrechtsverpflichtungen » ist in dem Kontext des Austrittprozesses Venezuelas aus der OAS in den letzten Jahren (2012-2019) zu sehen. Zum Gesamtzusammenhang erläutern die Autorinnen: «Hintergrund war, dass gegenwärtig teilweise eine abnehmende Akzeptanz einiger zumeist von Populisten mit autoritärer Tendenz regierten Staaten gegenüber dem IAGMR und OAS zu beobachten ist. So veröffentlichten 2019 fünf Mitgliedstaaten (Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien und Paraguay) eine gemeinsame Erklärung, in der sie das interamerikanische Menschenrechtssystem kritisierten. Sie forderten eine bessere Einhaltung des Prinzips der Subsidiarität und verlangten – wie das auch in Europa bei der Umsetzung der Pflichten aus der EMRK und den Urteilen des EGMR der Fall ist – mehr Beurteilungsspielraum bei der Erfüllung ihrer Konventionspflichten. Schon während seinesWahlkampfes erklärte der im Juni 2021 neu gewählte Präsident von Peru Pedro Castillo, dass er sich für einen Austritt Perus aus der AMRK einsetzen werde. Venezuela ist im Jahre 2019 gar ganz aus dem Staatenbund der OAS ausgetreten.» Wenn für den Beitritt zu OAS und AMRK nach jeweiligem innerstaatlichen Recht eine Beteiligung des Parlaments erforderlich ist, so gilt dies nach dem Gutachten des IAGMR auch für den Austritt. In ihrer Bewertung stellen Fuchs und Zamora Gonzalez fest: «Indem der IAGMR den Zusammenhang zwischen repräsentativer Demokratie und Menschenrechten herstellt (Ziff. 72), ergänzt er bei der Auslegung der Normen der AMRK und OAS-Charta das bekannte pro homine/pro persona-Prinzip, nach welchem der Mensch ins Zentrum des Völkerrechts gestellt wird, um ein neu geschaffenes, sog. pro democratica-Prinzip.» • Zum Gutachten OC-28/21, ebenfalls von Kolumbien beantragt, das die unbeschränkte Wiederwahl von Staatspräsidenten betrifft, heißt es: «Da sich ein Regime den demokratischen Charakter gerade nicht nur mit der an der Wahlurne zum Ausdruck gebrachten Mehrheit erhält, sondern vielmehr durch die Achtung von Minderheiten, der Institutionalisierung politischer Macht und gegenseitiger Kontrolle, bleibt die Etablierung angemessener Beschränkungen für die Wiederwahl, die der Verewigung einer Person im Präsidentenamt entgegensteht, eine der zentralen demokratischen Aufgaben in Lateinamerika, um für eine größere Fairness im politischen Wettbewerb zu sorgen. Deshalb ist das Gutachten OC-28/21, das in der Region wie erwartet hohe Wellen geschlagen hat, zu begrüßen, um der geschilderten Tradition des politischen „Kontinuismus“ entgegenzuwirken. Wie schon im oben geschilderte Gutachten OC-26/20 bringt das vorliegende Gutachten die wachsende Besorgnis des IAGMR vor einer demokratischen Erosion in der Region zum Ausdruck. (…) Dennoch wäre es dem IAGMR anzuraten, gerade bei der Beantwortung solch hochpolitischer, sensibler Fragestellungen die Zulässigkeitsvoraussetzungen von Gutachtenanträgen sowie seine Praxis, Gutachtenfragen umzuformulieren, zu klären. Nur so kann er sich des Vorwurfs ideologischer Voreingenommenheit und zunehmender Politisierung erwehren.» (Seite 481)  

Daniel Toda Castán, San Sebastián, bewertet das Urteil des spanischen Verfassungsgerichts Nr. 148/2021 zum COVID- 19-Lockdown als „nur halbwegs eine wegweisende Entscheidung“
Der Autor legt zunächst die Grundzüge des spanischen Notstandsrecht dar, wie es in der Verfassung (Art. 55 und 116) und durch das Organgesetz 4/1981 geregelt ist: Alarmzustand (estado de alarma), Ausnahmezustand (estado de excepción) und Belagerungszustand (estado de sitio). Das Verfahren war eine abstrakte Normenkontrolle, die von 52 Abgeordneten der ultra-rechten Partei Vox nach anfänglicher Zustimmung zu den dann jedoch kritisierten Maßnahmen beantragt worden war. Toda Castán analysiert das mit der knappen Mehrheit von 6 zu 5 Stimmen nach fast 15 Monaten Verfahrensdauer ergangene Urteil, setzt sich mit den fünf Sondervoten auseinander und unternimmt eine detaillierte Einordnung in die «gespaltene» Verfassungsrechtslehre zum grundrechtlichen Einschränkungs- und Aufhebungsbegriff. In seiner abschließenden Stellungnahme führt der Autor aus: «Das Urteil 148/2021 des Verfassungsgerichts hat viele Gelegenheiten verpasst: Zuerst die Korrektur des (nach Auffassung der Mehrheit des Gerichts) verfassungswidrigen Zustandes. Sodann die Chance, ein Grundsatzurteil zu sein, das sich mit den Grundbegriffen und unterschiedlichen Auffassungen eingehend auseinandergesetzt hätte. Innerhalb des Gerichts war eine Vielfalt an Positionen vertreten, die nur in dem Kontrast des Urteils mit den Sondervoten erkennbar wird. Dies zehrt an der Überzeugungskraft des Urteils. Diese Vielfalt hätte besser Eingang in den Urteiltext gefunden, auch wenn am Ende die Mehrheitsposition sich durchgesetzt hätte. Das Urteil stellt, wie oben gezeigt, für die Zukunft einige Aspekte klar, aber viele Fragen bleiben noch. Das Verfassungsgericht wollte im Grunde verhindern, dass eine Regierung unter einem Alarmzustand ohne vorherige parlamentarische Billigung eine faktische Aufhebung der Grundrechte herbeiführen kann, ohne dass diese als solche enttarnt werden könnte. Zweifellos ein für ein Verfassungsgericht sehr wohl nachvollziehbares Ziel. (…) Es bleibt die Frage, was für eine Rechtslage hat das Verfassungsgericht mit seiner Entscheidung geschaffen? Die Ausrufung des Ausnahmezustandes ist durch das weite Verständnis der öffentlichen Ordnung erleichtert worden. Auch das Abstellen auf „die realen Umstände“ überlässt Regierung und Parlament eine großzügigere Einschätzungsprärogative als eine streng umrissene Ermächtigungsgrundlage. Künftige Regierungen werden dann auf den Ausnahmezustand (und nicht den Alarmzustand) zurückgreifen, sollten sie wieder mit einer Pandemie konfrontiert werden. Sie werden damit erneut Lockdowns für bis zu 60 Tage verhängen können – was nach der COVID-Erfahrung zu kurz greifen und Regierung und Parlament zur fragwürdigen Ausrufung eines neuen Ausnahmezustands führen könnte. Trotz der Grenzen, die die Verfassungsrechtslehre für die Grundrechtsaufhebung gezogen hat, wird unsicher sein, an welchem Rechtsmaßstab besagte Lockdowns zu messen sein werden, denn das Verfassungsgericht hat in diesem Urteil die Grundrechtsaufhebung nur knapp und im engen Sinne definiert. Eine ansatzweise Ausgestaltung ihres Regimes lässt das Urteil vermissen.Wird man sich auf die Freizügigkeit als Grundrecht berufen können oder nur auf ihre Ausgestaltung für den Ausnahmezustand durch Organgesetz 4/1981? Wie wird festgestellt, ob ein Anwendungsakt noch durch das Ziel der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt ist? Und wenn, wie das Verfassungsgericht sagt, der Kollaps der Gesundheitsversorgung eine Störung der öffentlichen Ordnung nach § 13 Organgesetz 4/1981 darstellen kann: wann wird man von einem solchen Kollaps ausgehen dürfen? Wie viele Krankenhäuser werden dazu überlastet sein müssen?» Andererseits: «Die Lockdown-Erfahrung führt nämlich zu der Frage, warum die Freizügigkeit für die Menschen wertvoll ist.» Und schließlich: «Diese Fragen erscheinen umso wichtiger, als die rasch fortschreitende Klimakrise potenziell auch die natürlichen Grenzen zur Ausübung bestimmter Grundrechte, nicht zuletzt der Freizügigkeit, berühren könnte. (…) Ebenfalls wird die Rechtsordnung besser lernen müssen, wie mit wissenschaftlicher Ungewissheit umgegangen werden soll und wie im Nachhinein das Unwissen der Behörden rechtlich beurteilt wird. (…) Lässt sich aus den Grundrechten im Sinne der „due diligence“ eine positive Verpflichtung zur Verstärkung des wissenschaftlichen Kenntnisstands der zuständigen Behörden herleiten, damit in der Zukunft nie wieder Grundrechte aufgrund von Unkenntnis geopfert werden müssen? Für die Rechtswissenschaft und die Verfassungsgerichte bleibt die Lage spannend.» (Seite 506)  

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, bewertet Vernehmungen eines Beschuldigten unter systematischem Ausschluss von dessen Rechtsanwalt und überlange Verfahrensdauer (fast 13 Jahre) als Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK / hier: Korruptionsvorwurf gegen Beamten der EU-Kommission / Brus ./. Belgien
Der Gerichtshof ist der Ansicht, «dass das gegen den Bf. durchgeführte Strafverfahren bei einer Gesamtbetrachtung nicht erlaubt hat, den im Anfangsstadium aufgetretenen Verfahrensmängeln abzuhelfen. Der Gerichtshof hält es für wichtig zu betonen, dass er sich nicht wie ein Richter vierter Instanz verhalten darf; so wie er dies auch in anderen Art. 6 Abs. 1 der Konvention betreffenden Verfahren getan hat, bei denen es um die Prüfung der Fairness des Verfahrens insgesamt ging (…). Bei dieser Prüfung ist er jedenfalls aufgerufen, den Ablauf des innerstaatlichen Verfahrens sorgfältig zu prüfen und eine strikte Kontrolle vorzunehmen, die zudem geboten ist, da die Beschränkung des Rechts auf Zugang zu einem Anwalt auf keinem zwingenden Grund beruht.» Zur ungewöhnlich langen Dauer des Verfahrens führt der EGMR u.a. aus: «… der Hauptgrund hierfür liegt in der Art undWeise, wie die Behörden den Fall betrieben haben, insbesondere im Stadium der Untersuchung und der Verfahrensfestlegung. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofs, die Gründe für die festgestellten Verzögerungen zu bestimmen. Zweifellos hat ein Zusammentreffen von Faktoren dazu beigetragen, die allesamt mit der Organisation der Justiz im Bezirk Brüssel durch die betroffenen Akteure zusammenhängen.» (Seite 521)  

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, bekräftigt erneut auf Vorlage einer Zivilkammer des polnischen Obersten Gerichts die eindeutigen Kriterien für die Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern / Rs. W.Z˙ .
Im Ausgangsverfahren wehrt sich ein polnischer Richter, der die umstrittene Justizreform öffentlich kritisiert hatte, gegen die herabstufende Versetzung durch den neu eingesetzten Gerichtspräsidenten. Die Große Kammer (GK) des EuGH geht den Zweifeln des vorlegenden Gerichts an der Unabhängigkeit der (politisch) neu besetzten hier entscheidenden Instanzen unter Bezugnahme auf seine gefestigte Rechtsprechung detailliert nach. Es geht um die Krajowa Rada Sa˛ - downictwa (im Folgenden: die KRS (Landesjustizrat)) und das Oberste Gericht. «Zum Hintergrund des Ausgangsverfahrens hat der Rzecznik Praw Obywatelskich (Bürgerbeauftragte, Polen) vor dem Gerichtshof u.a. erstens ausgeführt, dass die von W.Z˙ . angefochtene Versetzungsentscheidung dessen Ansicht nach eine ungerechtfertigte Zurückstufung darstelle, da W.Z˙ . von einer im zweiten Rechtszug entscheidenden Zivilkammer des Regionalgerichts in eine im ersten Rechtszug entscheidende Zivilkammer dieses Gerichts versetzt worden sei. Zweitens sei W.Z˙ . Mitglied und Sprecher der vorherigen KRS und dafür bekannt gewesen, dass er die jüngsten Reformen der polnischen Justiz öffentlich kritisiert habe. Drittens sei der Gerichtspräsident, der die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Versetzung beschlossen habe, vom Justizminister gemäß Art. 24 Abs. 1 des Gesetzes über den Aufbau der ordentlichen Gerichtsbarkeit nach freiem Ermessen ernannt worden und habe den früheren Präsidenten dieses Gerichts abgelöst, dessen Amtszeit jedoch noch nicht beendet gewesen sei.» (Seite 525)  

 EuGH (GK) umgrenzt auf Vorlage des italienischen Staatsrats die Befugnis eines letztinstanzlichen Gerichts, von seiner Vorlagepflicht abzusehen / hier: erneute Vorlage im selben Verfahren / Verdeutlichung der Cilfit-Rechtsprechung von 1982 / Rs. Consorzio Italian Management
«Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshof kann ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, von dieser Pflicht nur dann befreit werden, wenn es festgestellt hat, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die Vorschrift des Unionsrechts bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war oder dass die richtige Auslegung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt.» Im Ausgangsverfahren wurde der Vorschlag, ein zweites Vorabentscheidungsersuchen dem EuGH vorzulegen – im selben Verfahren und nach dem Eintritt in eine erste Beratung – gemacht. Hierzu entscheidet der EuGH: «In dem Fall, in dem das vor einem Gericht im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV geltend gemachte Vorbringen gemäß den die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität wahrenden Verfahrensvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats als unzulässig zurückzuweisen ist, ist ein Vorabentscheidungsersuchen nicht als notwendig und für eine Entscheidung dieses Gerichts zweckdienlich anzusehen.» (Seite 539)  

 Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, verneint Anspruch von Medien (hier: Schweizerische Radio und Fernsehgesellschaft) auf uneingeschränkte Einsicht in die gesamten Akten eines vor langer Zeit (2007) abgeschlossenen Strafverfahrens wegen Entführung und Tötung eines Mädchens
Die Angehörigen des Tatopfers sprachen sich gegen Akteneinsicht aus, weil sie nicht alte Wunden wieder aufgerissen erleben wollten, und die Behörden, weil sie gewichtige staatliche Geheimhaltungsinteressen geltend machten. Das BGer stellt fest: «Zusammenfassend überwiegen die privaten Interessen der Beschwerdegegner und die öffentlichen Geheimhaltungsinteressen das Interesse der Beschwerdeführerin an der Einsicht in die Akten des Strafverfahrens. Die Vorinstanz hat der Beschwerdeführerin daher zu Recht die Einsicht in die Strafakten verweigert.» (Seite 546)  

 BGer verdeutlicht Reichweite der Justizöffentlichkeit, hier: Modalitäten der grundsätzlich gebotenen Gewährleistung des Zugangs zu abgeschlossenen familienrechtlichen Entscheidungen
Im Hinblick auf ein ihn persönlich betreffendes Scheidungsverfahren begehrt der Bf. vom Obergericht des Kantons Zug, ihm sämtliche seit dem 1. Januar 2015 ergangenen Entscheide in verschiedenen Bereichen des Familienrechts in anonymisierter, digitaler Form zuzustellen. Der Präsident des Obergerichts des Kantons Zug wies das Gesuch wegen des damit verbundenen großen Aufwands ab. Zum Aufwand argumentiert das BGer u.a.: «Hierzu ist ausserdem zu bemerken, dass die Urteile des Obergerichts bisher offenbar nicht systematisch publiziert wurden. Diese Praxis ist zulässig und ermöglicht es, beträchtliche Ressourcen einzusparen; sie hat aber zur Folge, dass das Obergericht bei Vorliegen eines konkreten Einsichtsgesuchs einen gewissen Zusatzaufwand in Kauf zu nehmen hat.» Zur praktischen Seite stellt das BGer fest, der Bf. habe keinen bundesrechtlichen Anspruch auf Zustellung in der gewünschten Form. «Vielmehr ist es ihm zuzumuten, auf der Kanzlei des Obergerichts darin Einsicht zu nehmen. Dort wird es ihm zu ermöglichen sein, Kopien der (anonymisierten) Urteile zu erstellen, sofern er dies wünscht.» (Seite 551)  

 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, zu IT-Sicherheitslücken, insbesondere zum Zielkonflikt zwischen einerseits staatlicher Pflicht zum Schutz informationstechnischer Systeme vor Angriffen Dritter und andererseits Nutzung unbekannter Sicherheitslücken für polizeiliche Überwachungsmaßnahmen
Prinzipiell führt der Erste Senat in den Leitsätzen aus: «Die grundrechtliche Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme verpflichtet den Staat, zum Schutz der Systeme vor Angriffen durch Dritte beizutragen. Die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates verlangt auch eine Regelung zur grundrechtskonformen Auflösung des Zielkonflikts zwischen dem Schutz informationstechnischer Systeme vor Angriffen Dritter mittels unbekannter Sicherheitslücken einerseits und der Offenhaltung solcher Lücken zur Ermöglichung einer der Gefahrenabwehr dienenden Quellen- Telekommunikationsüberwachung andererseits.» Die gegen § 54 Abs. 2 PolG BW (Quellen-Telekommunikationsüberwachung) gerichtete Verfassungsbeschwerde bleibt jedoch mangels Rechtswegerschöpfung erfolglos. Denn: «Es handelt sich bei diesen Vorschriften überwiegend um jüngeres Fachrecht, dessen Bedeutung bislang weder durch Gerichtsentscheidungen oder andere Rechtsanwendungsakte noch durch die Fachliteratur näher erschlossen ist. Damit das Bundesverfassungsgericht nicht auf ungesicherter Grundlage Entscheidungen treffen muss, müssen daher zunächst die für die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts primär zuständigen Fachgerichte dieMöglichkeit erhalten, die Sach- und Rechtslage zu prüfen. Die Beschwerdeführenden hätten darum versuchen müssen, etwa durch Erhebung einer verwaltungsgerichtlichen Feststellungs- oder vorbeugenden Unterlassungsklage fachgerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen.» (Seite 556)  

 BVerfG betont Vorrang der autonomen Willensentscheidung des Patienten und erklärt Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka in psychiatrischem Krankenhaus bzw. Maßregelvollzug bei Vorliegen einer Patientenverfügung für unzulässig
Der Zweite Senat führt u.a. aus: «Staatliche Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und 2 GG gegenüber einer untergebrachten Person können eine Zwangsbehandlung nicht rechtfertigen, wenn diese die in Rede stehende Behandlung im Zustand der Einsichtsfähigkeit durch eine Patientenverfügung wirksam ausgeschlossen hat.» Andererseits: «Sieht der Gesetzgeber die Maßnahme einer Zwangsbehandlung derjenigen Person vor, von der die Gefährdung anderer ausgeht, so ist er dabei an den Grundsatz strikter Verhältnismäßigkeit gebunden. Strenge materielle und verfahrensrechtliche Anforderungen müssen sicherstellen, dass die betroffenen Freiheitsrechte nicht mehr als unabdingbar beeinträchtigt werden.» (Seite 565)  

 BVerfG verlangt bei Auslieferung zur Strafvollstreckung bzgl. der Haftbedingungen (hier: Rumänien, Zellengröße u.a.) konkrete Prüfschritte und eigene Gefahrenprognose
Das mit einem Überstellungsgesuch befasste deutsche Gericht muss bei Vorliegen eines Europäischen Haftbefehls eigenständige Aufklärungspflichten erfüllen, um sich zu vergewissern, dass im Ausstellungsmitgliedstaat nicht gegen das absolute Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verstoßen wird. Das BVerfG stellt Verletzung von Art. 4 GRCh fest. (Seite 576)  

 BVerfG weist Befangenheitsantrag gegen Präsident Harbarth und Richterin Baer zurück
Gestützt wurde der Befangenheitsantrag auf die vom Präsidenten getroffene Themenauswahl für ein Treffen zwischen BVerfG und Bundesregierung sowie das bei dieser Gelegenheit von der Richterin Baer gehaltene Impulsreferat. Gegenstand des Hauptsacheverfahrens sind Corona-bedingte gesetzliche Ausgangsbeschränkungen. Harbarth hatte in einer dienstlichen Erklärung dargelegt, er halte das gewählte Thema „Entscheidung unter Unsicherheiten“ «für einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zwischen Verfassungsorganen für geeignet, weil es abstrakte und zeitlose Fragestellungen betreffe, die sich in den vergangenen Jahrzehnten auch in zahlreichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts niedergeschlagen hätten, und weil sich dieses Thema auch ohne konkreten Bezug zu anhängigen Verfahren erörtern lasse.» Das Referat zum vorgenannten Thema hat Richterin Baer frei gehalten, so dass ein Redemanuskript nicht vorliegt. Dazu heißt es in dem von den verbleibenden sechs Senatsmitgliedern getroffenen Beschluss: «Es ist nicht ersichtlich, inwiefern die Art der Vorbereitung und Dokumentation eines Vortrages die Besorgnis ihrer Befangenheit begründen könnte. Angesichts der häufigen Beschäftigung des Bundesverfassungsgerichts mit den Aspekt „Entscheidung unter Unsicherheiten“ betreffenden Fragen (…) ist es im Übrigen auch naheliegend, dass die in einem kurzen Impulsvortrag anzusprechenden Gesichtspunkte einer langjährigen Richterin des Bundesverfassungsgerichts auch ohne Redemanuskript vertraut sind.» (Seite 580)  

 EuGH – gerichtsinterne Wahlen:
Koen Lenaerts
(Belgier) als Präsident des EuGH auf weitere drei Jahre wiedergewählt / Lars Bay Larsen (Däne) auf drei Jahre zum Vizepräsidenten des EuGH gewählt / Maciej Szpunar (Pole) im Amt des Ersten Generalanwalts von seinen Kollegen auf weitere drei Jahre zum Ersten Generalanwalt gewählt. (Seite 584) Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic ´, mahnt Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz an Erinnerungsschreiben an die zuständige deutsche Bundesministerin Christine Lambrecht / Antwort der Ministerin / beide Texte in vollem Wortlaut. (Seite 584/585)  

 EuGH-Vizepräsidentin, Rosario Silva de Lapuerta, betont in einem Beschluss vom 6. Oktober 2021 die eigene Zuständigkeit für Aufrechterhaltung einer Einstweiligen Anordnung (Beschluss vom 14. Juli 2021) / Rs. Kommission ./. Polen
Die Verpflichtung zur vorläufigen Aussetzung von Disziplinarvorschriften (gezielte Bedrohung richterlicher Unabhängigkeit) bleibt bis zum Urteil in der Hauptsache bestehen. Der Antrag der polnischen Regierung auf Aufhebung der Einstweiligen Anordnung vom 14. Juli 2021 und Überweisung an die Große Kammer des EuGH wird zurückgewiesen. In dem Beschluss wird ausgeführt: «Die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten fällt zwar in deren Zuständigkeit, doch haben die Mitgliedstaaten somit bei der Ausübung dieser Zuständigkeit nichtsdestoweniger die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergeben (Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C-558/18 und C-563/18, EU:C:2020:234, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung = EuGRZ 2020, 195 [198]). Daraus folgt, dass die nationalen Bestimmungen über die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten im Kontext einer Vertragsverletzungsklage Gegenstand einer Überprüfung im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und demzufolge von u.a. auf die Aussetzung dieser Bestimmungen gerichteten einstweiligen Anordnungen sein können, die der Gerichtshof in diesem Zusammenhang nach Art. 279 AEUV erlässt. (…) Der Umstand, dass ein nationales Verfassungsgericht feststellt, dass solche einstweiligen Anordnungen gegen die Verfassungsordnung des betreffenden Mitgliedstaats verstoßen, ändert nichts an der in der vorstehenden Randnummer vorgenommenen Beurteilung.» (Seite 586)