EuGRZ 2016
29. Februar 2016
43. Jg. Heft 1-4

Informatorische Zusammenfassung

Otfried Höffe, Tübingen, richtet unter der Überschrift „Konfuzius, der Koran und die Gerechtigkeit“ den interkulturellen Blick auf die Universalität des Menschenwürde-Prinzips
Der Autor widerspricht der Behauptung, die Universalität der Menschenwürde sei westlicher Kulturimperialismus und belegt seine Perspektive politischer Philosophie mit zahlreichen Quellen-Nachweisen. Für den moralischen Grundsatz der Wechselseitigkeit, der Goldenen Regel, führt Höffe an:
«Im indischen Nationalepos Mahâbharata vom sechsten vorchristlichen Jahrhundert lesen wir: „Was ein Mensch sich nicht von anderen angetan wünscht, das füge er auch nicht anderen zu“. Etwa zur selben Zeit lehrt im Lun-yu – Gespräche des Konfuzius, Konfuzius: „Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen.“ Zwei Jahrhunderte später heißt es in einem ägyptischen Weisheitsbuch „tue niemandem etwas Böses an, um nicht heraufzubeschwören, dass ein anderer es dir antue“.»
Zum Stichwort „Wohlwollen“ folgen Zitate aus altägyptischen Weisheitsbüchern, einem altbabylonischen Text, dem indischen Epos Mahâbharata, einem Klassiker der chinesischen Philosophie, Mozi, sowie aus der zweiten Sure des Koran.
«Die personale Gerechtigkeit ergänzt sich, erneut in (fast) allen Kulturen, die wir kennen, um eine erste politische Gerechtigkeit, die Justizgerechtigkeit. [Sie] soll leisten, was der altbabylonische „König der Gerechtigkeit“, Hammurabi, den Schwachen, Witwen und Waisen verspricht: Die Richterschaft verstehe sich als das beseelte Recht und verhelfe unterschiedslos jedem zu seinen berechtigten Ansprüchen. (…) Aus diesem Grund sind große Richtergestalten ein Muster für persönliche Rechtschaffenheit und für eine korruptionsfreie, funktionierende Justiz zugleich. Ein vorbildliches Beispiel einer souveränen, jeder Korruptionsversuchung enthobenen Unparteilichkeit bietet der chinesische Richter Di (7. Jh. n. Chr.) (…)
Der interkulturelle Konsens setzt sich fort in dem bis heute unstrittigen Kern der Gerechtigkeit. Von der Antike über die Justitia-Darstellungen der bildenden Kunst bis zum bedeutendsten Gerechtigkeitstheoretiker des letzten Jahrhunderts, John Rawls mit dem Gedanken eines Schleiers des Nichtwissens („veil of ignorance“), besteht der Kern in Gleichheit bzw. Unparteilichkeit.»
Im Blick auf eine globale Perspektive, eine Weltrechtsordnung, argumentiert Höffe: «Tatsächlich findet sich die Grundlage, die unantastbare Würde des Menschen, auch außerhalb des Abendlands. (…) Laut dem zweitwichtigsten Klassiker des Konfuzianismus, dem schon erwähnten Meng Zi (Menzius), besitzt „jedereinzelne Mensch“ eine ihm angeborene „Würde in sich selbst“. Aufgrund dieses Ranges, jedem angeboren zu sein, ist die Menschenwürde eine universale Mitgift. Sie gründet in der dem Menschen vom „Himmel“ verliehenen moralischen Natur, kann daher durch die jeweiligen Machthaber weder gewährt noch genommen werden. Legitime, in ihrer Grundlage gerechte Herrschaft ist vielmehr an die Achtung dieser Würde gebunden. Meng Zi bekräftigt also nicht bloß eine normativ anspruchsvolle Grundlage der Menschenrechte, die Menschenwürde. Er unterscheidet auch das originäre Gewähren seitens einer überpositiven Instanz, hier „Himmel“ genannt, von einem bloß subsidiärem Gewährleisten, das der menschlichen Herrschaft obliegt.
Ebensowenig lässt sich der Gedanke der Menschenrechte von der afrikanischen Kultur her relativieren. (…)
Derartige Beispiele erlauben, zwei beliebte, aber unberechtigte Annahmen zurückzuweisen. Weder ist der Westen der einzige Treuhänder der Menschenrechte, noch können sich andere Kulturen unter Berufung auf ihre nichtwestlichen Werte vom Anspruch der Menschenrechte freisprechen.»
Abschließend heißt es in dem Beitrag: «Dass die hier behandelten Grundsätze in der Realität immer wieder missachtet werden, ist kein Grund, an ihrer normativen Richtigkeit zu zweifeln. Sie sind ein Maßstab an dem sich Gesellschaft und Politik zu orientieren haben.» (Seite 1)

Christian Tomuschat, Berlin, widmet sich analytisch differenzierend dem Thema: „Menschenrechte und kulturelle Traditionen“
«Grund- oder Menschenrechte sind seit dem Ende des II. Weltkrieges zu einem festen Bestandteil aller nationalen Verfassungen geworden. Als beispielhaft darf man insoweit das Grundgesetz nennen, das in seinem Art. 1 den gesamten Verfassungstext mit den Worten einleitet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und dieser Leitbestimmung sogleich den ganzen Katalog der spezielleren Grundrechte folgen lässt. (…)
Im Lichte moderner Verfassungspraxis ist man geneigt, an ständigen Fortschritt in Richtung Freiheit und Gleichheit zu glauben. Aber natürlich kann es auch Rückfälle geben in Verhältnisse autoritärer Staatsführung, wo dann Hindernisse der Durchsetzung weniger in Bollwerken kultureller Traditionen liegen.»
Der Beitrag schlägt den Bogen von der ursprünglichen Rolle der Grund- und Menschenrechte als Schutzzonen gegenüber einem übermächtigen Staat hin zu einem Programm für gesellschaftliche Entwicklung: «Denn vor allem der in den neu entstehenden Verfassungstexten zunächst eher vage formulierte Gleichheitssatz entfaltete eine jedenfalls auf politischer Ebene nicht aufzuhaltende Dynamik. In den USA hatte man zunächst in der Unabhängigkeitserklärung wie auch später in Amendments zu der Verfassung (Amendment XIV) in scheinbar idealistischer Ehrlichkeit ein Gleichheitspostulat aufgestellt, das dann aber mit hoher Unbefangenheit der versklavten Bevölkerungsgruppe verweigert wurde. Erst im Bürgerkrieg der Jahre 1861-1865 brachte sich das Gleichheitsprinzip auch tatsächlich zur Geltung. In Preußen kam es nach der Niederlage gegen Napoleon stufenweise zu einer grundlegenden Staatsreform, die zur Aufhebung der Leibeigenschaft und zur allgemeinen Befreiung der Bauern von allen Grundabhängigkeiten führte. Ähnliche Entwicklungen vollzogen sich in den übrigen deutschen Teilstaaten mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Einher ging mit den Maßnahmen zugunsten der Landbevölkerung die allmähliche Befreiung der Juden von den ihnen auferlegten Beschränkungen. Der Gleichheitssatz ging also weit über ein bloßes Abwehrrecht hinaus, sondern wurde zur Quelle von Forderungen nach umfassender Umstrukturierung des Soziallebens.»
Als Beispiel nimmt Tomuschat den Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 2 GG: („Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“) und die Entscheidung des Ersten Senats des BVerfG vom 18. Dezember 1953, dass „das dem Art. 3 Abs. 2 GG entgegenstehende bürgerliche Recht auf dem Gebiete von Ehe und Familie mit Ablauf des 31. März 1953 außer Kraft“ tritt. «Damit war ein umfassendes Reformprogramm für das bürgerliche Recht in Gang gebracht. (…) Das grundlegende Gebot der Gleichheit von Mann und Frau konnte nicht auf die Staat-Bürger-Beziehung beschränkt bleiben.
Es liegt auf der Hand, dass die traditionelle patriarchalische Ordnung, wie sie sich noch bruchstückhaft jedenfalls bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes erhalten hatte, bis dahin den Wünschen und Vorstellungen einer Mehrheit der Bevölkerung entsprochen hatte. Aber die hergebrachten Rechtfertigungen, die den Vorzugsstatus des Mannes stützten, konnten dem aufklärerischen, frischen Ansatz des Grundgesetzes nicht standhalten.»
Der Autor geht in seinem dritten Abschnitt auf „Religionsfreiheit als Hort traditioneller Bräuche“ in Deutschland und Europa ein. Hierzu gehören als Thema das islamische Kopftuch und die Vollverschleierung von Frauen. Tomuschat begrüßt das EGMR-Urteil zum französischen Burka-Verbot, weil es auch Aufgabe des Staates sei, «ein allgemeines Klima des vertrauensvollen Miteinanders in einer Gesellschaft zu sichern». Den Beschluss des Ersten Senats des BVerfG, das Tragen des Kopftuchs einer moslemischen Lehrerin in der Schule nicht auf gesetzlicher Grundlage generell zu verbieten, sondern die Entscheidung bei einer „konkreten“ Gefahr der Schule aufzubürden, kritisiert der Autor, weil sie ein «ungeheures Konfliktpotential erzeugt». Ein schlimmerer Dienst könne dem Schulfrieden kaum geleistet werden.
Traditionen im außereuropäischen Raum bilden den vierten Abschnitt, in dem es namentlich um Indien, moslemische Staaten (insbesondere Saudi-Arabien) und Afrika geht. Schließlich wird fünftens der Frage nachgegangen, ob Staat und Nation als revisionsbedürftige Traditionen anzusehen sind.
Abschließend fasst Tomuschat zusammen: «Grundrechte können als Quelle der Erneuerung verstanden werden, aber auch als Bollwerk für den Schutz überkommener Verhältnisse dienen.
Es liegt auf der Hand, dass es keine einheitlichen Antworten auf die Frage nach dem Vorrang von Erhaltung oder Modernisierung geben kann. Jede Konfliktslage verlangt nach einer Berücksichtigung ihrer spezifischen Besonderheiten. Jedenfalls stellt der moderne Verfassungsstaat die Instrumente bereit, die geeignet sind, im Wege des öffentlichen Diskurses die unterschiedlichen Werturteile vor allem der Religionsgemeinschaften zu einem friedlichen Ausgleich zu führen.» (Seite 6)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, billigt dialogische Werbung einer Zigarettenfirma unter Nutzung des Vornamens eines Prominenten in Bezug auf dessen umstrittene Buchveröffentlichung / Keine Verletzung von Art. 8 EMRK (Achtung des Privatlebens) / Dieter Bohlen gegen Deutschland
Der Bekanntheitsgrad des Bf. im vorliegenden Fall war dadurch beachtlich gesteigert, dass er in seinem letzten Buch („Hinter den Kulissen“) diverse Textpassagen aufgrund von gerichtlichen Eilverfahren dritter in ihren Persönlichkeitsrechten Betroffener hatte schwärzen müssen. Diese in der Öffentlichkeit intensiv diskutierte Tatsache, nutzte eine Zigarettenfirma als Aufhänger für eine in „Spiegel“ und „Bild“ (1,42 Mio. bzw. 4,67 Mio. Auflage) geschaltete ganzseitige Anzeige. Das Bildmotiv bestand aus zwei im Vordergrund abgebildeten Zigarettenschachteln mit Markennamen. Auf der einen Schachtel lag eine glimmende Zigarette, auf der anderen ein großer schwarzer Filzstift. Darüber stand in großen Buchstaben: „Schau mal, lieber Dieter, so einfach schreibt man super Bücher.“ Die Wörter „lieber“, „einfach“ und „super“ waren geschwärzt, blieben aber leserlich. Unten auf der Anzeige standen der Name der Zigarettenmarke und hinzugefügt die Worte „Sonst nichts“.
Nach Auforderung durch den Bf. verpflichtete sich die Zigaretten GmbH, die Werbung mit seinem Namen nicht zu wiederholen, weigerte sich aber die geforderten 70.000,- Euro als fiktive Lizenzgebühr zu bezahlen. Daraufhin klagte der Bf. vor dem LG Hamburg erfolgreich 100.000,- Euro als fiktive Lizenzgebühr ein. Das OLG Hamburg reduzierte die Summe auf 35.000,- Euro. Der Bundesgerichtshof stellte klar, dass es bei dem anhängigen Rechtstreit ausschließlich um einen Eingriff in die vermögensrechtlichen Bestandteile des Persönlichkeitsrecht gehe, denn eine Beeinträchtigung der ideellen Bestandteile dieses Persönlichkeitsrechts sei nicht gerügt worden, und folgerte daraus, dass kein Zahlungsanspruch bestehe.
Der EGMR würdigt die Argumentation der innerstaatlichen Gerichte, pflichtet ihnen bei und stellt fest, dass Art. 8 EMRK nicht verletzt worden ist:
«In Bezug auf die in Rede stehende Werbung stellt der Gerichtshof fest, dass diese lediglich auf das Erscheinen des Buches des Bf. und die sich anschließenden Rechtsstreitigkeiten anspielte, d.h. auf ein öffentliches Ereignis, das in den Medien kommentiert worden war. Die streitgegenständliche Werbeanzeige hatte keine Einzelheiten aus dem Privatleben des Bf. dargelegt und außerdem nicht einmal die Aspekte des Privatlebens des Bf. wiedergegeben, die er selbst in seinem Buch offenbart hatte. (…)
Was das frühere Verhalten des Bf. anbelangt, haben die deutschen Gerichte hervorgehoben, dass der Bf. sich durch die Veröffentlichung des Buches selbst ins Rampenlicht begeben und aus eigenem werblichen Interesse die Öffentlichkeit selbst gesucht hatte. (…)
Im Hinblick auf den Inhalt, die Form und die Auswirkungen der Werbung merkt der Gerichtshof an, dass die deutschen Gerichte herausgestellt haben, dass die Werbeanzeige keine herabsetzenden oder negativen Elemente in Bezug auf den Bf. enthielt (…), sie nicht deswegen abwertend war, weil sie eine Zigarettenmarke bewarb, wohingegen der Bf. erklärt, Nichtraucher zu sein, und auch die Werbung nicht suggerierte, dass sich der Bf. in irgendeiner Weise mit dem dargestellten Produkt identifiziere.» (Seite 17)

EGMR bekräftigt seine Rechtsprechung, dass unbewiesene Tatsachenbehauptungen keine von der Pressefreiheit (Art. 10 EMRK) geschützten Werturteile sind / Kieser und Tralau-Kleinert gegen Deutschland
Die Bf. hatten in dem Online-Magazin Neue Rheinische Zeitung einer Kölner Verleger-Familie vorgeworfen, sich während der Nazi-Zeit an jüdischem Vermögen bereichert zu haben. Das LG und das OLG Köln ordneten in einstweiligen Verfügungen an, die Verbreitung bestimmter Teile des Artikels zu unterlassen. Der EGMR bestätigte im Ergebnis die innerstaatlichen Urteile:
«Der Gerichtshof kann sich der Sicht der Bf. nicht anschließen, dass der Begriff „Arisierungsprofite“ als ein auf tatsächlichen Gründen basierendes Werturteil einzuordnen sei. Die Behauptungen in der vorliegenden Rechtssache waren sehr schwerwiegend und wurden als Tatsachenbehauptungen und nicht als Werturteile dargestellt. Die Bf. brachten nicht nur eine persönliche Meinung zum Ausdruck und kommentierten vergangene Ereignisse, sondern sie erweckten den Eindruck, sie würden der Öffentlichkeit unbekannte Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Rolle der Familie DuMont in der Nazi-Zeit aufdecken. Sie unterstellten eine unrechtmäßige Bereicherung und beriefen sich zum Beweis auf die Ergebnisse geschichtswissenschaftlicher Studien des Historikers Niebel. Der Begriff „Arisierungsprofite“ war daher im Kern eine Tatsachenbehauptung und nicht, wie die Bf. behaupten, ein Werturteil.
Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass die innerstaatlichen Gerichte die in Rede stehenden Äußerungen als unwahr betrachteten, weil die Bf. keine hinreichenden Beweise vorgelegt hätten.» (Seite 23)

EGMR wertet Widerruf einer Presse-Akkreditierung für die Berichterstattung über eine Gerichtsverhandlung mit beträchtlichem Medieninteresse nicht als zivilrechtliche Streitigkeit i.S.v. Art. 6 EMRK / Truckenbrodt gegen Deutschland
Der Bf. rügt die Dauer des Verfahens vor dem Bundesverfassungsgericht. Der EGMR erklärt die Beschwerde ratione materiae für unzulässig. In der Entscheidungsbegründung heißt es: «Da es kein spezifisches Recht auf Fotoaufnahmen im Zusammenhang mit einer Gerichtsverhandlung gibt, stellt der Gerichtshof fest, dass die Entscheidung des Vorsitzenden Richters über die Zulassung oder die Beschränkung der Zulassung von Journalisten zur Fotoberichterstattung als Ausübung der öffentlichen Gewalt zur Aufrechterhaltung der Ordnung im Gericht anzusehen ist und keine Entscheidung über einen zivilrechtlichen Anspruch i.S.v. Art. 6 Abs. 1 darstellt.» (Seite 28)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, hebt richterliche Einschränkung der Gerichsberichterstattung über eine öffentliche Hauptverhandlung wegen einer rassistischen Äußerung auf Twitter (Frage nach „Kristallnacht  … diesmal für Moscheen“) als verfassungswidrig (Art. 16, 17 BV) auf
Auf Antrag des, am Ende zu einer bedingten Geldstrafe (75 Tagessätze zu 120,- Fr.) und einer Busse von 1.800,– Fr. verurteilten, Angeklagten verfügte der Einzelrichter des Bezirksgerichs Uster, den Gerichtsberichterstattern bzw. Medienvertretern zu untersagen, in Bezug auf die beschuldigte Person den Namen, Fotos, Alter, Wohnort, Arbeitgeber und die Adresse des Internetblogs zu publizieren. Als Sanktion wird eine Ordnungsbusse bis zu 1.000,- Fr. angedroht.
Das Bundesgericht stellt fest: «Die einzelrichterliche Hauptverhandlung vom 19. Mai 2014 gegen den Beschwerdegegner war öffentlich. Zugang hatten somit nicht nur die Gerichtsberichterstatterinnen und Gerichtsberichterstatter, sondern jedermann. Das Verbot, bestimmte Informationen über den Beschwerdegegner zu publizieren, traf jedoch einzig die Gerichtsberichterstatterinnen und Gerichtsberichterstatter, nicht aber das übrige Prozesspublikum. Jeden anderen Prozessbesucher hinderte die Verfügung des Einzelrichters nicht, die betreffenden Informationen an Dritte weiterzugeben, gegebenenfalls auch auf dem Internet mit breiter Wirkung (z. B. Blog, „soziale Medien“). Die Gerichtsberichterstatterinnen und Gerichtsberichterstatter wurden also gegenüber dem übrigen Prozesspublikum schlechter gestellt. Das läuft dem Grundsatz zuwider, wonach den Gerichtsberichterstatterinnen und Gerichtsberichterstattern eine gegenüber dem übrigen Prozesspublikum privilegierte Stellung zukommt. Dies spricht für einen schweren Eingriff in die Medienfreiheit. (…)
Gestützt auf die Akteneinsichtsverordnung konnte er [der Einzelrichter] jedoch den Beschwerdeführerinnen kein Verbot erteilen, bestimmte Angaben über den Beschwerdegegner zu publizieren, und ihnen im Widerhandlungsfalle eine Ordnungsbusse bis zu Fr. 1.000,- androhen. Die gegenteilige Ansicht der Vorinstanz ist willkürlich.
Selbst im Gesetz im materiellen Sinn fehlt es demnach an einer hinreichenden Grundlage für den Eingriff in die Medienfreiheit. Er erweist sich daher als unzulässig.»
(Seite 29)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, betont die nationale Verfassungsidentität als Barriere gegen unionsrechtlich begründete Grundrechtsverletzung / Zur Wahrung des Schuldgrundsatzes wird die Auslieferung (hier: nach Italien) zur Vollstreckung eines in Abwesenheit ergangenen Strafurteils untersagt
Der Bf. ist amerikanischer Staatsbürger und wurde 1992 rechtskräftig von der Corte di Appello Florenz in Abwesenheit wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie wegen Einfuhr und Besitzes von Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt. Im Jahre 2014 wurde er aufgrund eines Europäischen Haftbefehls in Deutschland festgenommen. Das OLG Düsseldorf hatte die Auslieferung für zulässig erklärt.
Der Zweite Senat hebt die Entscheidung des OLG Düsseldorf auf und verweist die Sache zurück. Seinem Beschluss hat der Senat die folgenden Leitsätze vorangestellt: «1. Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet im Wege der Identitätskontrolle den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall.
2. Die strengen Voraussetzungen für eine Aktivierung der Identitätskontrolle schlagen sich in erhöhten Zulässigkeitsanforderungen an entsprechende Verfassungsbeschwerden nieder.
3. Der Schuldgrundsatz gehört zur Verfassungsidentität. Er muss daher auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Verurteilten ergangenen Strafurteils gewahrt werden.
4. Die deutsche Hoheitsgewalt darf die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen. Umfang und Ausmaß der Ermittlungen, zu deren Vornahme das Gericht im Hinblick auf die Einhaltung des Schuldprinzips verpflichtet ist, richten sich nach Art und Gewicht der vom Verurteilten vorgetragenen Anhaltspunkte für eine Unterschreitung des durch Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen Mindeststandards.»
Eine Vorlage an den EuGH gem. Art. 267 AEUV hält der Senat mit folgender Begründung nicht für geboten: «Die richtige Anwendung des Unionsrechts ist derart offenkundig, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt („acte clair“, vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, Slg. 1982, S. 3415, Rn. 16 ff.). Das Unionsrecht gerät mit dem Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG im vorliegenden Fall nicht in Konflikt. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl verpflichtet, wie dargelegt, deutsche Gerichte und Behörden nicht, einen Europäischen Haftbefehl ohne Prüfung auf seine Vereinbarkeit mit den aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Anforderungen zu vollstrecken. Dass die Grenzen der Ermittlungspflicht, insbesondere mit Blick auf den Umfang der nach Unionsrecht zulässigen Ermittlungen und der hiermit verbundenen Verzögerungen beim Vollzug des Haftbefehls in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht geklärt sind, ändert daran nichts. Jedenfalls im hier zu entscheidenden Fall ist kein Anhaltspunkt erkennbar, dass Unionsrecht einer Pflicht des Oberlandesgerichts, die Wahrung der Rechte des Beschwerdeführers eingehender zu prüfen, entgegen stand. Das gilt vor allem mit Blick auf die substantiierten Anhaltspunkte, die der Beschwerdeführer dem Oberlandesgericht dafür vorgetragen hat, dass ihm nach italienischem Prozessrecht keine Möglichkeit eröffnet sei, sich wirksam zu verteidigen.» (Seite 33)

BVerfG beanstandet das an sich rechtlich zulässige Unterlassen einer Begründung der Nichtzulassung einer Revision durch den BGH wegen naheliegender Vorlagepflicht an den EuGH als Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 GG)
In dem eisenbahnrechtlichen Fall vor der 1. Kammer des Ersten Senats geht es um die Frage, ob die Anwendung des § 315 BGB (zivilgerichtliche Billigkeitskontrolle eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts) mit Unionsrecht vereinbar ist. (Seite 50)

BVerfG sieht kein Rechtsschutzbedürfnis für den Bf. gegen Zustellung einer Klage vor US-amerikanischem Gericht nach inzwischen eingetretener Rechtskraft der Klageabweisung durch New Yorker Bezirksgericht. (Seite 54)

BVerfG erklärt Sozietätsverbot für Rechtsanwälte mit Ärzten oder Apothekern (§ 59a Abs. 1 S. 1 BRAO) im Rahmen einer Partnerschaftsgesellschaft wegen Unvereinbarkeit mit der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) für nichtig. (Seite 61)

BVerfG weist Verzögerungsbeschwerde als unbegründet zurück, weil die Verfahrensdauer (4 J., 8 M.) durch Sachgründe, d.h. durch die außergewöhnliche Belastung des zuständigen Richterdezernats gerechtfertigt ist. (Seite 72)

BVerfG nimmt Vb. gegen Beschränkung der Bildberichterstattung über ein Strafverfahren durch sitzungspolizeiliche Anordnung einer Pool-Lösung wegen unerwartet starken Medieninteresses (Außenminister Fischer als Zeuge) nicht zur Entscheidung an. Dies ist der Ausgangsfall für die (oben auf Seite 28 veröffentlichte) EGMR-Entscheidung im Fall Truckenbrodt. (Seite 77)

EGMR-Präsident Guido Raimondi zieht auf seiner Jahrespressekonferenz in Straßburg eine positive Zwischenbilanz der Arbeitsleistung und betont die Verbindlichkeit der Urteile des Gerichtshofs
«(…) Wenn die Natur des nationalen Systems ein Urteil des Gerichtshofs nicht akzeptieren kann, – so die Logik – dann kann nicht im System [der Konvention] bleiben, wer die verbindliche Natur des Urteils leugnet.» (Seite 79)

Parlamentarische Versammlung des Europarates, Straßburg, wählt Georgios A. Serghides zum neuen zypriotischen Richter am EGMR und weist die Liste der Regierung von Aserbaidschan wegen Ungeeignetheit der Kandidaten zum zweiten Mal zurück. (Seite 80)

BVerfG – Übersicht über die im Jahr 2016 u.a.zur Entscheidung anstehenden Verfahren. (Seite 81)