EuGRZ
25. Juli 2023
50. Jg. Heft 9-12

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Informatorische Zusammenfassungen

In seinem Nachruf auf Thomas Buergenthal (11.5.1934 bis 29.5.2023) schreibt Christian Tomuschat, Berlin:

  «Das Leben des renommierten amerikanischen Juristen Thomas Buergenthal, ein Felsen auf dem Gebiet des internationalen Menschenrechtsschutzes, hat am 29. Mai diesen Jahres seinen Abschluss gefunden. Der Tod ist auch in der deutschen Presse nicht unbemerkt geblieben. Mit seinem Wirken hat Buergenthal Spitzenpositionen im öffentlichen Leben erreicht, doch hat sich seine Arbeit nie auf öffentlicher Schaubühne mit unmittelbarer Medienwirksamkeit vollzogen. Sein Name steht als Symbol für Hoffnung und Vertrauen in die Kraft der Versöhnung trotz aller Verbrechen, die man ihm und seiner Familie unter der nationalsozialistischen Gewaltdiktatur angetan hat. Geradezu heroisch darf man es nennen, dass er als jüdischer Verfolgter jenes Unrechtsregimes in seinem Buch der Erinnerung an die tödlichen Bruchstellen seines Lebens den Titel „Ein Glückskind“ [Frankfurt, S. Fischer, 2007] gab. Erstaunlich, ja bewundernswert darf man es auch finden, dass in dieser Erzählung vom Wunder des Wandels vom KZ-Häftling zum Richter am Internationalen Gerichtshof (IGH), der höchsten Instanz des Völkerrechts, kein Ton der Verbitterung mitschwingt. Nur eine starke Persönlichkeit konnte sich im literarischen Rückblick von dem Trauma der Vergangenheit loslösen. (…)

 Vor allem der Gedanke der Aussöhnung trotz aller erlittenen Unbill behielt bei ihm die Oberhand. Seine Ausreise in die Vereinigten Staaten im Jahre 1951 war keine Absage an Deutschland, sondern der Beginn einer neuen Lebensphase. Der Kontakt mit Deutschland wurde beibehalten und gepflegt. So war er auch bereit, Ehrungen in dem Land anzunehmen, das man vielfach immer noch das Land der Täter nennt. So nahm er auch 1986 eine Ehrendoktorwürde von Seiten der Universität Heidelberg an, an deren Feier auch der Verfasser dieser Zeilen teilnahmen konnte, und im Jahre 2007 kam es in der Aula der Universität Göttingen abermals zu einer gleichen Würdigung.

 Die Verleger Erika und Norbert Paul Engel waren Thomas Buergenthal in enger Freundschaft verbunden. Er war Mit- Herausgeber der EuGRZ seit 1976 und wirkte beratend an der Gründung des Human Rights Law Journal 1980 mit, dessen Beirat er seitdem angehörte.»

 Buergenthal studierte an der New York und der Harvard University (Erwerb des Doktorgrades), er lehrte an den Universitäten in Buffalo des Staates New York, Austin (Texas), American University (Washington D.C.), Emory (Atlanta) und George Washington (in Washington D.C.) und war Autor zahlreicher völkerrechtlicher Werke. Er wirkte im Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (San José/Costa Rica), u.a. als dessen Präsident, in der Wahrheitskommission für El Salvador, im UN-Ausschuss für Menschenrechte (Genf/New York) und als Richter im Internationalen Gerichtshof (Den Haag).

 Christian Tomuschat betont in seinem Nachruf: «Thomas Buergenthal setzte mit seiner Bereitschaft, den Menschen seines elterlichen Ursprungslandes [Mutter aus Göttingen, Vater polnischer Nationalität mit beruflichem Schwerpunkt bis kurz vor Hitlers Machtergreifung in Berlin] die Hand auszustrecken, ein Beispiel, das gerade heute Nachahmer braucht. Wenn nach einer schwerwiegenden Auseinandersetzung beide Seiten zu ehrlicher Selbsterkenntnis bereit sind, ist dies keine billige Friedensromantik, sondern eine tragende Kraft, die Gräben zuschütten und neue Verbindungen schaffen kann. Strafen müssen für die ärgsten Missetaten verhängt und auch vollzogen werden, aber sie sind nicht die ganze Wahrheit. Völker sind auf einer Basis der Verständigung darauf angewiesen, auch nach einer Katastrophe friedlich miteinander weiterzuleben. Durch sein persönliches Beispiel hat Thomas Buergenthal gezeigt, dass selbst unter widrigsten Umständen der Weg in eine friedliche Zukunft gefunden werden kann.» (Seite 185)

  András Jakab, Salzburg, und Lando Kirchmair, München, plädieren für „Vollendung der Europäischen Grundrechteunion“ durch Neuinterpretation von Art. 51 der EU-Grundrechte- Charta «Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, dass die Durchsetzung der Werte in Art. 2 EUV [„Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“] gegenüber den Mitgliedstaaten von der Anwendung der EU-Grundrechtecharta (GRCh) auch in Fällen profitieren könnte, in denen die derzeitige Auslegung von Art. 51 Abs. 1 GRCh dies verhindert. (…) Die wichtigste historische Herausforderung für diese Werte in Europa ist heute der systematische Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in einigen Mitgliedstaaten. Es ist der eigentliche Zweck der Grundrechte, Antworten auf solche Gefahren zu geben. Wenn man von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie spricht, meint man notwendigerweise auch die Grundrechte. Dieser Beitrag plädiert daher für eine EU, die sich als eine vollständige Grundrechteunion begreift. Während die traditionelle Auslegung von Art. 51 Abs. 1 GRCh eine ausgewogene Kompetenzverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten im Blick hatte, löst die Missachtung der Werte des Art. 2 EUV eine clausula rebus sic stantibus aus: Das föderale Gleichgewicht kann nur aufrechterhalten werden, wenn sich beide Seiten an das ursprünglich im Hinblick auf Art. 2 EUV gegebene Versprechen halten.»

 Die Autoren bewerten zunächst die «neue Eskalationsstufe» der Rechtsstaatlichkeitskrise in der EU durch Polen, Ungarn und Rumänien. «Ein Mechanismus, der die Wertedurchsetzung in die Hände von Politikern legt, ist ein nützlicher, aber kein ausreichender Mechanismus. Gerichtlich garantierte Mechanismen bringen ein Potential mit sich, welches politischen verwehrt bleibt. (…) Gerichtlich garantierte Mechanismen sind deshalb die vertrauenswürdigsten Mechanismen, um den Betroffenen die Durchsetzung dieser Werte zu ermöglichen.»

 Sodann begreifen die Autoren die Grundrechteunion als Antwort auf die Rechtsstaatlichkeitskrise und setzen sich mit der herrschenden Lehre zum Anwendungsbereich von Art. 51 Abs.1 GRCh auseinander sowie mit den beiden Wegen zur Vollendung der Grundrechteunion – Vertragsrevision oder einer anderen Sichtweise bei der Auslegung von Art. 51 Abs. 1 GRCh. «D. h. Mitgliedstaatenmüssten die Grundrechte der GRCh stets achten und könnten nicht auf eine alleinige mitgliedstaatliche Kompetenz rekurrieren, um eine Grundrechtsverletzung zu rechtfertigen. Die Brücke des hinreichenden Zusammenhangs bestünde zum einen darin, dass die EU allgegenwärtigen Einfluss weit über ihre Kompetenzen hinaus hat. So wirken sich bspw. die Fördermittel nicht nur im Kompetenzbereich der EU aus. In Polen oder Ungarn wird der Abbau der Rechtsstaatlichkeit mit EU Steuergeldern finanziert. (…)

 Die vorgesehene Art der gerichtlichen Kontrolle wäre dezentral im Sinne einer Ausübung durch die nationalen Gerichte, welche – ähnlich der Rechtsprechung des EGMR – einen Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) haben sollte, wobei die Einhaltung des Kerns der Grundrechte vom EuGH überwacht würde. Ihre einheitliche Anwendung wäre aber durch das Vorabentscheidungsverfahren gewährleistet. So wäre es selbst bei gekaperten mitgliedstaatlichen Höchstgerichten unteren Instanzen erlaubt [an den EuGH] vorzulegen; Höchstgerichte müssten im Sinne der Cilfit-Doktrin vorlegen. Der EuGH und die GRCh haben entscheidende Vorteile gegenüber dem EGMR und der EMRK. Die Verfahren dauern nicht so lange und durch den europarechtlichen Anwendungsvorrang wäre der Schutz stärker. Gekaperte Verfassungs- bzw. Höchstgerichte wären somit weniger schädlich als dies gegenwärtig der Fall ist. Denn jedes mitgliedstaatliche Gericht erster Instanz könnte ein grundrechtliches Vorabentscheidungsverfahren initiieren (im Gegensatz zu Individualbeschwerden gem. Art. 35 Abs. 1 EMRK, die erst nach Erschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe erhoben werden können). Somit wären Verfahren nach der GRCh nicht nur schneller, sondern wegen des Anwendungsvorrangs auch effektiver (…).»

 Jakab und Kirchmair fassen ihre Überlegungen folgendermaßen zusammen: «Jede Gesellschaft wird von bestimmten Werten zusammengehalten, die zumindest rhetorisch unbestreitbar sind. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Westeuropa und seit dem Ende des Kommunismus in ganz Europa haben die säkularen Werte der Verfassungsstaatlichkeit eine integrative Funktion. (…) Es gab und wird Versuche geben, diese Werte in Frage zu stellen, aber wenn wir glauben wollen, dass die europäische Integration eine Chance hat, dann müssen wir diese Versuche stoppen, bevor es zu spät ist. Wenn es in einem EU-Mitgliedstaat erlaubt ist, dann wird es auch in einem anderen Mitgliedstaat möglich sein und im Handumdrehen wird das europäische Gebäude, das auf diesen Werten ruht, überraschend schnell zerfallen. Untätigkeit trägt zur Erosion des moralischen und institutionellen Kapitals der EU bei. Das offensichtliche Spannungsverhältnis zwischen der Durchsetzungsschwäche der EU einerseits und der (impliziten) rechtlichen Verpflichtung zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in ihrem Hoheitsgebiet andererseits hat gravierende Konsequenzen.

 Eine uneingeschränkte Anwendung der GRCh im Falle von Verletzungen von Art. 2 EUV-Werten würde der europäischen Verfassung die Möglichkeit geben, den gefährlichen Tendenzen Einhalt zu gebieten. Der EuGH könnte so die Werte der europäischen Integration durchsetzen und über das Vorabentscheidungsverfahren alle Gerichte der Mitgliedstaaten zu lokalen Akteuren machen, die sich zu diesen Werten bekennen und diese durchsetzen. Ein wichtiger Bestandteil der Lösung liegt (wie so oft in der Geschichte der westlichen Verfassungsstaatlichkeit) bei der Judikative. Die Gerichtsbarkeit ist die traditionelle Hüterin des Rechtsstaats, der nicht als blindes Befolgen des Gesetzes verstanden werden sollte, sondern als eine wirkmächtige Einrichtung, deren Aufgabe es u.a. ist, dem willkürlichen Einsatz staatlicher Macht Einhalt zu gebieten. Unter den gegenwärtigen institutionellen Umständen liegt ein großer Teil der Verantwortung beim EuGH, welcher sich der Herausforderung stellen könnte, indem er weitere Schritte hin zur Vervollständigung der europäischen Grundrechteunion wagt, welche die Charta schlussendlich – wenn notwendig – auch in rein innerstaatlichen Fällen anwendbar machen könnte.» (Seite 188)

  Marten Breuer, Konstanz, untersucht den „Umgang von EGMR und Ministerkomitee mit Fällen gegen Russland nach dessen Ausscheiden aus dem Europarat ab 16. März 2022“

 Zu dem vom EGMR eingeschlagenen Weg gibt Breuer zu bedenken: «(…) bekanntlich reagierte der EGMR auf den Ausschluss Russlands aus dem Europarat zunächst mit einem kurzfristigen „Einfrieren“ sämtlicher Fälle, nur um die Bearbeitung wenige Tage später wieder aufzunehmen. (…) Ende 2022 waren beim EGMR 74.650 Fälle anhängig. 16.750 oder 22,4 % hiervon betrafen Russland, d.h. durch die weitere Bearbeitung russischer Fälle werden gerichtliche Ressourcen in erheblichem Umfang gebunden. Eine übergroße Zahl dieser anhängigen Beschwerde betrifft sog. repetitive cases, in denen durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs die rechtlichen Maßstäbe bereits klargestellt worden sind. Nach den Informationen, die die neue EGMR-Präsidentin O’Leary auf der Pressekonferenz vom 26.1.2023 mitgeteilt hat, sind das im Falle Russlands ca. 11.000 Beschwerden, insbesondere im Zusammenhang mit den Haftbedingungen in russischen Gefängnissen. Was hätte hier näher gelegen, als analog zum Fall Burmych [GK, 2017] zu verfahren und alle diese Beschwerden en bloc an das Ministerkomitee zu überweisen?

 Dass der EGMR dies nicht getan hat, ist als ein bemerkenswertes Bekenntnis zum Recht auf Individualbeschwerde aus Art. 34 EMRK zu werten. Zusätzliche Erwägungen mögen dieses Ergebnis befördert haben: So wäre es wohl nur schwer vermittelbar gewesen, hätte der Gerichtshof zwar die Behandlung von Individualbeschwerden gegen Russland eingestellt, wäre aber zugleich mit der Prüfung der acht gegen Russland aktuell anhängigen Staatenbeschwerden fortgefahren.»

 Zur Behandlung russischer Fälle aus der Perspektive des Ministerkomitees stellt Breuer fest: «EGMR-Urteile sind (…) für Russland auch dann völkerrechtlich bindend, wenn sie lange nach dem 16.9.2022 ergehen, vorausgesetzt der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt hat sich vor dem genannten Stichtag ereignet. (…)

 Russland hingegen hat mit dem 15.3.2022 jegliche Kooperation mit dem Europarat eingestellt. Urteile des EGMR, die nach diesem Datum in Rechtskraft erwachsen sind, wurden nach dem am 11.6.2022 von der Duma verabschiedeten Gesetz ganz offiziell nicht mehr umgesetzt. Entschädigungszahlungen, die aus rechtskräftigen Urteilen vor diesem Datum resultierten, wurden dem Gesetz zufolge noch bis zum 1.1.2023 beglichen, allerdings nur in Rubel und auf Bankkonten in Russland – so die Information aus dem Strategiepapier des Ministerkomitees vom Dezember 2022. [siehe dazu unten S. 293]»

 Entschädigungsregister und Entschädigungsfonds: «Die zwei mittlerweile geschaffenen Register folgen unterschiedlichen Rationalitäten.

 •• Das allgemeine, aus dem Strategiepapier vom Dezember 2022 hervorgegangene Register bezieht sich auf sämtliche Entschädigungsforderungen gegen Russland aus Art. 41 EMRK. Es hat primär den Zweck, der russischen Seite die Höhe der ausstehenden Forderung – wohl im Sinne eines bargaining chip – vor Augen zu führen. Tatsächliche Entschädigungszahlungen sollen aus diesem Register nicht erfolgen.

 ••  Demgegenüber ist der Entschädigungsmechanismus, der auf dem Gipfel von Reykjavik [Mai 2023] vereinbart worden ist, einerseits thematisch enger, indem er sich ausschließlich auf die kriegerischen Ereignisse in der Ukraine nach dem 24. Februar 2022 bezieht, andererseits aber auch weiter, weil er nicht ein Verfahren vor dem EGMR voraussetzt. Das auf der Grundlage eines Enlarged Partial Agreement geschaffene Entschädigungsregister ist ein erster Schritt, dem zu einem späteren Zeitpunkt die Einrichtung einer claims commission sowie eines Entschädigungsfonds folgen sollen. In der rechtlichen Umsetzung harren noch vielfältige Folgefragen der Lösung.»

 Abschließend fasst Breuer zusammen: «Der EGMR ist in seinem Umgang mit russischen Fällen erkennbar bemüht, einerseits die Grundregeln der Verfahrensfairness zu beachten, sich andererseits aber das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen zu lassen. In diesem Sinne ist etwa die Entscheidung zu werten, den „russischen“ Ersatzrichter von vornherein aus den eigenen Reihen zu rekrutieren. Auf diese Weise erspart sich der EGMR Taktierereien rund um die russische Ad hoc-Richterliste. Der Umgang mit der Nichtbeteiligung Russlands an Verfahren deutet ebenfalls in diese Richtung. Fraglich erscheint dabei, ob Russland auch den Staatenbeschwerdeverfahren dauerhaft fern bleiben wird. Die russische Regierung könnte versuchen, die mündlichen Verhandlungen zu einer Bühne für die eigene Propaganda umzufunktionieren. (…) Aus Sicht des Ministerkomitees erscheint bemerkenswert, dass die russische Seite offenbar die Verbindlichkeit der EGMR-Urteile gar nicht prinzipiell in Frage stellt, sondern die Nichtbefolgung dieser Urteile ihrerseits mit angeblichen Rechtsbrüchen durch den Europarat begründet. Auch wenn diese Argumente rechtlich nicht tragfähig sind, ermöglichen sie der russischen Seite doch die Entwicklung eines Narrativs, in dem sie sich zum Opfer und den Europarat zum Täter stilisiert. EGMR und Ministerkomitee haben nun wichtige Grundentscheidungen zum Umgang mit russischen Fällen getroffen, schon jetzt ist aber absehbar, dass weitere Reaktionen und Anpassungsmaßnahmen in Zukunft unumgänglich sein werden.» (Seite 199)

 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, legt im Fall Svetova u.a. gegen Russland Grundsätze im Umgang mit Fällen gegen Russland nach dessen Ausscheiden aus dem Europarat dar

 In der Sache geht es um die unberechtigte Durchsuchung der Wohnung von Journalisten und unterschiedslose Beschlagnahme ihrer persönlichen Gegenstände. Der EGMR stellt Verletzungen von Art. 8, 10 und 13 i.V.m. Art 8 der Konvention fest.

 Bzgl. Gerichtsbarkeit und Auswirkungen der fehlenden Verfahrensbeteiligung durch die Regierung heißt es:

 «Der Gerichtshof bemerkt, dass der beklagte Staat am 16. März 2022 als Mitglied aus dem Europarat ausgeschieden ist (…) und dass er seit dem 16. September 2022 ebenfalls nicht mehr Vertragsstaat der Konvention ist. (…).

 Der Gerichtshof stellt fest, dass die beklagte Regierung durch ihre Weigerung, der Aufforderung des Gerichtshofs zur Einreichung schriftlicher Stellungnahmen Folge zu leisten (…), ihre Absicht zum Ausdruck gebracht hat, sich an der weiteren Behandlung des vorliegenden Falles nicht länger zu beteiligen. Indes verpflichtet die Konvention die Staaten dazu, alle notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, um die ordnungsgemäße und effektive Prüfung von Beschwerden zu ermöglichen (…).

 Die Beendigung der Mitgliedschaft im Europarat entbindet die Vertragspartei nicht von ihren Kooperationspflichten mit den Konventionsorganen (…). Diese Verpflichtung dauert so lange an, wie die Zuständigkeit des Gerichthofs bestehen bleibt, Beschwerden wegen Handlungen oder Unterlassungen zu behandeln, aus denen eine mögliche Konventionsverletzung resultieren kann, vorausgesetzt dass sich diese vor dem maßgeblichen Datum ereignet haben, zu welchem die Konventionszugehörigkeit des beklagten Staates geendet hat. Da sich die Ereignisse, auf die die Bf. ihre Beschwerde stützen, vor dem 16. September 2022 ereignet haben und der Gerichtshof weiterhin zur Behandlung der Beschwerde zuständig bleibt, kann die Nichtteilnahme der beklagten Regierung am Verfahren kein Hindernis für die weitere Prüfung darstellen.» (Seite 207)

  EGMR billigt Eintrag in eine regionale interne Liste von Lehrkräften, die wegen Zweifeln an ihrer Verfassungstreue für die Einstellung in den Schuldienst einer öffentlichen Schule (hier: in Hessen) als ungeeignet angesehen werden / Keine Verletzung von Art. 10 EMRK / Godenau gegen Deutschland

 Zu den relevanten und ausreichenden Gründen gehören rechtsradikale Auftritte in der Öffentlichkeit im In- und Ausland sowie die begrenzte Zugänglichkeit und Reichweite der Liste.

 Im Urteil heißt es: «In der vorliegenden Rechtssache (…) war die Bf. zu dem Zeitpunkt, als sie in die Liste eingetragen wurde, arbeitslos und es gab keinen Eingriff in bestehende Positionen oder Rechte. Vielmehr wurde mit ihrer Eintragung und Speicherung in der Liste der Zweck verfolgt, ihre Wiedereinstellung in den Schuldienst einer öffentlichen Schule in Hessen zu verhindern. Insofern stellt die Tatsache, dass die betreffenden dezentralen hessischen Schulämter nicht daran gehindert waren, die Bf. einzustellen, und dazu verpflichtet waren, im Falle einer Bewerbung durch die Bf. ihre Eignung zu prüfen, ein wichtiges Verhältnismäßigkeitselement dar (…). Darüber hinaus hatten weder öffentliche Schulen anderer Bundesländer noch Privatschulen in Hessen Zugriff auf die Liste oder die darin enthaltenen Informationen, so dass die Eintragung und Speicherung der Bf. in der Liste ihre Einstellung in den Schuldienst einer öffentlichen Schule eines anderen Bundeslandes oder an einer hessischen Privatschule nicht verhindern und auch keine negativen Auswirkungen auf eine Bewerbung auf eine solche Stelle haben konnte, wie die innerstaatlichen Gerichte festgestellt haben.» (Seite 211)

  Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, zu Rechtsstaatlichkeitsmängeln in Rumänien / Verhinderung einer Disziplinarklage gegen den Chefinspekteur der Justizinspektion / Rs. Inspecția Judiciară

 Auf Vorlage des Berufungsgerichts Bukarest stellt der EuGH fest: «Das vorlegende Gericht weist (…) darauf hin, dass nach der genannten Regelung eine Disziplinarklage zur Ahndung von Fällen des Missbrauchs durch den Chefinspekteur nur von einem Inspektor eingeleitet werden könne, dessen Laufbahn weitgehend von den Entscheidungen des Chefinspekteurs abhänge und der zwangsläufig im Rahmen der vom Chefinspekteur festgelegten Organisation tätig werden müsse.

 Des Weiteren geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass den Chefinspekteur betreffende Entscheidungen vom stellvertretenden Chefinspekteur überprüft werden können, der vom Chefinspekteur benannt wurde und dessen Amtszeit mit derjenigen des Chefinspekteurs endet.

 Eine solche Disziplinarregelung scheint vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Verifikationen dazu geeignet zu sein, dass in der Praxis die tatsächliche Erhebung einer Disziplinarklage gegen den Chefinspekteur verhindert wird, selbst wenn gegen ihn glaubhaft substantiierte Beschwerden erhoben werden sollten.» (Seite 220)

 Gericht der Europäischen Union (EuG), Luxemburg, bestätigt das vom Rat nach dem russischen Angriff auf die Ukraine verhängte vorläufige Sendeverbot für den vom Kreml beherrschten und finanzierten Privatsender RT France / Rs. RT France gegen Rat

 Die Große Kammer (GK) des EuG weist die Klage von RT France gegen den Rat ab. In der Begründung heißt es u.a.: «Zunächst ergibt sich aus den Akten und wird von der Klägerin nicht bestritten, dass ihr Gesellschaftskapital ebenso wie das der übrigen Sender der RT-Gruppe von der Vereinigung russischen Rechts TV Novosti gehalten wird, die der Sache nach vollständig aus dem russischen Staatshaushalt finanziert wird (…); dies hat die Klägerin selbst in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Ferner geht aus den Akten hervor, dass diese Vereinigung im Jahr 2005 von RIA Novosti gegründet wurde, einer staatlichen Presseagentur, die 2013 durch einen Beschluss aufgelöst wurde, mit dem ihre Vermögenswerte auf die neue internationale staatliche Presseagentur Rossiya Segodnya übertragen wurden. Sodann ergibt sich, wie der Rat hervorgehoben hat, aus wiederholten Äußerungen der – auf der Website der Klägerin so bezeichneten – Chefredakteurin der RT-Gruppe im Wesentlichen, dass die RT-Gruppe ein Informationsorgan des russischen Staates sei, eine „internationale Kette, die das Land repräsentiert“, u.a. mit der Aufgabe, eine bedeutende Zuschauerschaft zu erreichen, ausgehend von den Ländern, in denen ihre Sender aktiv seien, und zu kritischen Zeitpunkten, z. B. während eines Krieges, als „Informationswaffe“ gegen die westliche Welt zu fungieren. In diesem Kontext wurde die Funktion der RT-Gruppe im Wesentlichen mit der des russischen Verteidigungsministeriums verglichen. (…)

 Jedenfalls ist dem Rat beizupflichten, dass die Klägerin im Anschluss an eine Würdigung der konkreten Beweise für ihre Rolle im Rahmen der Propagandaaktionen zugunsten desmilitärischen Angriffs der Russischen Föderation auf die Ukraine den in Rede stehenden restriktiven Maßnahmen unterworfen wurde. Die Gründe, auf die sich der Rat beim Erlass der angefochtenen Rechtsakte stützte, beruhen nämlich auf der Rolle der Klägerin als einer unter der direkten oder indirekten Kontrolle durch die Führung der Russischen Föderation stehenden strategischen Informations- und Propagandawaffe. Zwar war der Umstand, dass ihr Gesellschaftskapital einer in Russland ansässigen Vereinigung gehört, die vollständig aus dem Haushalt des russischen Staates finanziert wird, kein untergeordneter Gesichtspunkt bei der Beurteilung ihrer Propagandatätigkeit. Aus den angefochtenen Rechtsakten geht jedoch hervor, dass die von anderen audiovisuellen Medien abweichende Behandlung der Klägerin auf zwei Kriterien beruht, und zwar zum einen darauf, dass sie von der Regierung der Russischen Föderation kontrolliert wird, und zum anderen auf ihrer Propagandatätigkeit zugunsten des militärischen Angriffs auf die Ukraine. Entgegen dem Vorbringen der Klägerin stellt daher ihre Kapitalstruktur oder der Ursprung ihrer Finanzierung nicht den einzigen Grund dar, der den Rat zum Erlass der angefochtenen Rechtsakte veranlasste.» (Seite 226)

 Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, hebt Rückkehrrecht von Mietparteien nach Sanierung auf / Gesetzgebung im Kanton Basel-Stadt

 Das im Kanton Basel-Stadt nach einer Volksinitiative gesetzlich verankerte Rückkehrrecht steht im Einklang mit der Kantonalverfassung ist jedoch zivilrechtlicher Natur. Es greift in das vom Bund abschließend geregelte Verhältnis zwischen Vermieter und Mieter ein und verstößt deshalb gegen den Grundsatz des Vorrangs von Bundesrecht. (Seite 248)

 BGer setzt sich detailliert mit dem Bettelverbot (hier: im Kanton Basel-Stadt) auseinander / Zugrunde liegt das Übertretungsstrafgesetz (ÜStG) i.d.F. vom 23.6.2021, in Kraft seit 1.9.2021

  «Der basel-städtische Gesetzgeber hat mit Blick auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte Nr. 14065/15 Lacatus gegen Schweiz vom 19. Januar 2021 von der Wiedereinführung eines umfassenden Bettelverbotes abgesehen und sich für ein genauer definiertes partielles Verbot entschieden. (…) Es geht um den Zugang zu öffentlichen und privaten Gebäuden und Anlagen sowie den Schutz des Privatbereichs bei der gewinnstrebigen wie auch persönlichen Nutzung solcher Einrichtungen. Dabei kann es grundsätzlich nicht darauf ankommen, ob die Distanz fünf oder zwei Meter beträgt, solange die Regelung nicht auf ein weitgehendes Bettelverbot bzw. eine Schikane hinausläuft, wofür es hier keine ausreichenden Anhaltspunkte gibt. Im Rahmen der Massnahmen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie musste die gesamte Bevölkerung mit vergleichbaren Distanzregelungen umgehen, weshalb nicht erkennbar ist, weshalb das für bettelnde Personen nicht zumutbar sein sollte.»

 § 9 Abs. 2 lit. b-c sowie lit. g ÜStG sehen vor: «Mit Busse wird bestraft, wer im öffentlichen Raum oder an allgemein zugänglichen Orten bettelt und dabei die öffentliche Sicherheit, Ruhe und Ordnung stört, namentlich wer: (…)

 b) innerhalb von fünf Metern um Ein- und Ausgänge von Bahnhöfen sowie innerhalb von fünf Metern um Haltestellen des öffentlichen Verkehrs und Schiffsanlegestellen bettelt;

 c) innerhalb von fünf Metern um Geld-, Zahlungs- und Fahrkartenautomaten oder Parkuhren bettelt; (…)

 g) in öffentlichen Parks, Gärten, Friedhöfen, Spielplätzen, Schulanlagen, Unterführungen sowie innerhalb von fünf Metern um deren Ein- und Ausgänge bettelt.»

 Das Bundesgericht stellt fest, dass das Bettelverbot in § 9Abs. 2 lit. b-c durch ein hinreichendes öffentliches Interesse gerechtfertigt und daher nicht zu beanstanden ist. Das Verbot des passiven Bettelns in Parks wird hingegen aufgehoben, dazu heißt es:

 «Ein mögliches Gefühl der Unsicherheit auf Seiten der Parkbenutzerinnen und -benutzer vermag ein Verbot passiven Bettelns nicht zu rechtfertigen. Das Bettelverbot in Parkanlagen erweist sich als überschiessend und damit als unverhältnismässig. In § 9 Abs. 2 lit. g ÜStG ist demnach das Wort „Parks“ zu streichen.» (Seite 252)

 Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, fordert im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot von Strafgefangenen eine angemessene Vergütung für Gefangenen- Arbeit / Die entsprechenden Strafvollzugsgesetze Bayerns und Nordrhein-Westfalens sind mit dem GG unvereinbar und müssen bis 30. Juni 2025 nachgebessert werden

 Die Leitsätze des Zweiten Senats lauten: «1. Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber dazu, ein umfassendes, wirksames und in sich schlüssiges, am Stand der Wissenschaft ausgerichtetes Resozialisierungskonzept zu entwickeln sowie die von ihm zu bestimmenden wesentlichen Regelungen des Strafvollzugs darauf aufzubauen.

 2. Das Gesamtkonzept muss zur Erreichung des von Verfassungs wegen vorgegebenen Resozialisierungsziels aus dem Gesetz selbst erkennbar sein. Der Gesetzgeber muss die Zwecke, die im Rahmen seines Resozialisierungskonzepts mit der (Gesamt-)Vergütung der Gefangenenarbeit und insbesondere dem monetären Vergütungsteil erreicht werden sollen, im Gesetz benennen und widerspruchsfrei aufeinander abstimmen.

 3. Der Gesetzgeber ist nicht auf ein bestimmtes Regelungskonzept festgelegt; vielmehr ist ihm ein weiter Gestaltungsraum eröffnet. Die gesetzlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des Vollzugs müssen auf sorgfältig ermittelten Annahmen und Prognosen beruhen, und die Wirksamkeit der Vollzugsgestaltungen und Behandlungsmaßnahmen muss regelmäßig wissenschaftlich begleitet und evaluiert werden.

 4. Hat der Gesetzgeber ein Resozialisierungskonzept festgeschrieben und entschieden, welchen Zwecken die Gefangenenarbeit und deren Vergütung dienen sollen, müssen Ausgestaltung und Höhe der Vergütung so bemessen sein, dass die in dem Konzept festgeschriebenen Zwecke auch tatsächlich erreicht werden können. Die Angemessenheit der Vergütungshöhe ist an den mit dem Resozialisierungskonzept verfolgten Zwecken zu messen.

 5. Bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Einschätzung, Abwägung und Gewichtung der verschiedenen Gesichtspunkte steht dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum zu. Das Bundesverfassungsgericht nimmt die verfassungsrechtliche Überprüfung des Konzepts im Rahmen einer Vertretbarkeitskontrolle vor.»

 In der Begründung des Urteils heißt es u.a. «Für die Freiheitsstrafe, bei der die staatliche Gewalt die Bedingungen der individuellen Lebensführung weitgehend bestimmt, erlangt das Gebot der Resozialisierung besonderes Gewicht. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gebot aus dem Selbstverständnis einer Rechtsgemeinschaft entwickelt, die die Menschenwürde in den Mittelpunkt ihrer Wertordnung stellt und dem Sozialstaatsprinzip verpflichtet ist. Den Gefangenen sollen die Fähigkeit und der Wille zu eigenverantwortlicher Lebensführung vermittelt werden. Sie sollen sich in Zukunft unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft ohne Rechtsbruch behaupten, die Chancen einer solchen Gesellschaft wahrnehmen und ihre Risiken bewältigen können. Die Notwendigkeit, den Strafvollzug auf das Ziel der Resozialisierung auszurichten, dient zugleich dem Schutz und der Sicherheit der Gemeinschaft selbst: Diese hat ein unmittelbares eigenes Interesse daran, dass Straftäter nicht wieder rückfällig werden und erneut ihre Mitmenschen und die Gemeinschaft schädigen (…).

 Das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot bestimmt den gesamten Strafvollzug; es gilt auch bei der Vollstreckung einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Vollzugsanstalten sind auch bei diesen Gefangenen verpflichtet, auf deren Resozialisierung hinzuwirken, ihre Lebenstüchtigkeit zu erhalten und schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs und damit vor allem deformierenden Persönlichkeitsveränderungen entgegenzuwirken (…). Entsprechendes muss für die Sicherungsverwahrung gelten. Auch die dort Untergebrachten können der Freiheit wieder teilhaftig werden, wenn sie nicht mehr gefährlich sind.» (Seite 262)

 BVerfG sieht in der gesetzlichen Aufhebung einer strafgerichtlichen Verurteilung wegen Werbung für Schwangerschaftsabbrüche (vormals § 219a StGB) eine umfassende Rehabilitierung der betroffenen Fachärztin für Allgemeinmedizin

 Verfassungsbeschwerde der Ärztin nicht zur Entscheidung angenommen, da Rechtsschutzbedürfnis entfallen ist. (Seite 289)

 Ministerkomitee (MK) des Europarats, Straßburg, legt Strategiepapier zur Überwachung der Urteilsumsetzung in Fällen gegen die Russische Föderation vor. (Seite 293)

 Siehe hierzu den Aufsatz von Breuer über den Umgang von EGMR und Ministerkomitee mit Fällen gegen Russland nach dessen Ausscheiden aus dem Europarat zum 16. März 2022, EuGRZ 2023, 199 (204 ff.) – in diesem Heft

. Richterwahlen – Sebastian Rădulețu neuer rumänischer Richter am EGMR. (295)

 4. Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der 46 Europaratsstaaten am 16/17. Mai 2023 in Reykjavik (Island) / Schlusserklärung

 Zur finanziellen Ausstattung des EGMR stellt die Schlusserklärung von Reykjavik ausdrücklich fest, dass die gegenwärtig dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden (finanziellen und personellen) Ressourcen unhaltbar unzureichend sind, um die neu eingehenden und bereits anhängigen Beschwerden angemessen abzuarbeiten.

 Die Staats- und Regierungschefs verpflichten sich deshalb, dem EGMR ausreichende und langfristig tragfähige Mittel zuzuweisen. (Seite 295)

 BVerfG erlässt einstweilige Anordnung gegen zu stark verkürzte Beratungszeit für Gebäudeenergiegesetz im Deutschen Bundestag / Antrag des Abgeordneten Thomas Heilmann (CDU) im Organstreitverfahren

 Der Tenor der einstweiligen Anordnung vom 5.7.2023 des Zweiten Senats lautet: «Dem Antragsgegner [Deutscher Bundestag] wird aufgegeben, die zweite und dritte Lesung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur „Änderung des Gebäudeenergiegesetzes, zur Änderung der Heizkostenverordnung und zur Änderung der Kehr- und Überprüfungsordnung“ (BTDrucks 20/6875) nicht innerhalb der laufenden Sitzungswoche (27. Kalenderwoche [3.7.-9.7.2023]) durchzuführen.»

 In der Begründung heißt es: «Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zielt darauf ab, dem Deutschen Bundestag vorläufig zu untersagen, die zweite und dritte Lesung des vorgenannten Gesetzentwurfs auf die Tagesordnung zu setzen, solange nicht allen Abgeordneten die wesentlichen Textpassagen des für die zweite Lesung maßgeblichen Gesetzentwurfs mindestens 14 Tage vorher zugegangen sind.»

 Der Antragsteller macht in dem Organstreitverfahren im Wesentlichen seine Beteiligungsrechte als Mitglied des Deutschen Bundestages aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sowie in Verbindung mit Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 76 f. GG geltend. Er wendet sich gegen das «Abschneiden einer hinreichenden Beratungszeit».

 In der Folgenabwägung führt der Senat u.a. aus: «Erginge die einstweilige Anordnung und bliebe dem Antrag in der Hauptsache der Erfolg versagt, käme es zu einem erheblichen Eingriff in die Autonomie des Parlaments beziehungsweise der Parlamentsmehrheit und damit in die originäre Zuständigkeit eines anderen obersten Verfassungsorgans. Von einem solchen Eingriff ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich abzusehen. In der vorliegenden Konstellation ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Verabschiedung des Gebäudeenergiegesetzänderungsgesetzes zu einem sein Inkrafttreten ab dem 1. Januar 2024 nicht berührenden Zeitpunkt ohne Weiteres möglich bliebe. Insoweit weist der Antragsteller darauf hin, dass der Antragsgegner noch für den laufenden Kalendermonat eine Sondersitzung des Deutschen Bundestages anberaumen könnte (vgl. Art. 39 Abs. 3 Satz 2 und 3 GG). Soweit der Antragsgegner darauf abstellt, dass bei einer Absetzung der Lesungen von der Tagesordnung in dieser Sitzungswoche eine Verabschiedung durch den Bundesrat und damit ein Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens erst anlässlich der nächsten regulären Sitzung des Bundesrates Ende September möglich sei, übergeht er, dass der Präsident des Bundesrats zu dessen Einberufung verpflichtet ist, wenn die Bundesregierung dies verlangt (vgl. Art. 52 Abs. 2 Satz 2 GG).» (Seite 296)