EuGRZ 2016 |
31. Oktober 2016
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43. Jg. Heft 18-20
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Informatorische Zusammenfassung
Herbert Landau, Karlsruhe, behandelt unter der Überschrift „Verfassungsrecht und Strafrecht“ die Kompatibilität des deutschen Strafrechts mit Unionsrecht und EMRK vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Fundamente
«Die Unterschiede zwischen dem auch in der Europäischen Union zunehmend vorherrschenden Strafrechtsverständnis anglo-amerikanischer Prägung und den grundgesetzlichen Vorgaben für das Strafrecht stellen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft vor die schwierige Aufgabe, die Kongruenz des deutschen Strafrechtssystems, dessen Kompatibilität, in Europa zu gewährleisten und zugleich die integrationsfesten Fundamente dieses Systems, wie sie in unserer Verfassung verankert sind, zu wahren. (...)
Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe und das Verhältnis von Schuld und Sühne. Der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, hat seine Grundlage in der Menschenwürde des Art. 1 GG und gehört deshalb zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch supranational und völkerrechtlich ausgeübter richterlicher Gewalt geschützt ist.»
Der Autor betont: «Mit diesen „gemeißelten“ Sätzen der Lissabon-Entscheidung betritt man den Boden des Dialogs, der Grenzziehung und der wechselseitigen Impulsgebung im Wettbewerb der Strafrechtsordnungen. (...)
Die Verlagerung strafrechtlicher Kompetenzen auf supranationale Organisationen wie die Europäische Union hat der Zweite Senat ebenso begrenzt, wie die Aushöhlung der strafrechtlichen Strukturprinzipien durch extensive europarechtliche Rechtsfortbildung. (...)
Damit hat der Senat – überzeugt von dem liberalen und rechtsstaatlichen Charakter unseres Systems und seinem Gewinn für Freiheit und Verantwortung der Menschen und eingedenk der besonderen Notwendigkeit demokratischer Legitimation gerade des Strafrechts – das Risiko in Kauf nehmen müssen, dass die Kompatibilität des deutschen Strafrechtssystems in Europa problematisch sein kann und besonderer Anstrengung von Gesetzgeber, Rechtsprechung und Wissenschaft bedarf. (...)
Gerade weil die Verfassungsvorbehalte im Detail variieren, kann die anzustrebende Kohärenz der Rechtsordnungen in einem Mehrebenensystem nicht immer durch abstrakte Rangnormen hergestellt werden. Regel (europäischer Anwendungsvorrang) und Ausnahme (nationaler Vorbehalt) müssen vielmehr durch einen auf die einzelne Norm bezogenen Abwägungsvorgang austariert werden. Der Sache nach ist dieser Vorgang bereits heute in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts – und im Falle der Sicherungsverwahrung auch in der Rechtsprechung des EGMR – zu beobachten.»
Landau geht sodann auf die Entscheidung des Zweiten Senats vom 15. Dezember 2015 zur Auslieferung nach Italien (Identität I, EuGRZ 2016, 33) ein:
«Es stand im Raum, dass der Beschwerdeführer, ohne Kenntnis von dem Verfahren und ohne jemals die Chance zu haben, vor einem Richter zu stehen, eine Gefängnisstrafe von 30 Jahren verbüßen muss. Deshalb waren das Schuldprinzip und damit die Identität der Verfassung im konkreten Fall berührt. Die Kompatibilität unseres Strafrechtssystems konnte dennoch gesichert werden, weil sowohl die europarechtlichen Grundlagen des EU-Haftbefehls selbst, als auch das umsetzende Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen eine Auslegung gebieten, die den von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten bei einer Auslieferung Rechnung trägt. (...) Für die Praxis ergeben sich aus der Entscheidung freilich (...) nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Deshalb bedarf sie der wissenschaftlichen Begleitung, die die Einzelfälle systematisiert und den Gerichten einen gangbaren Weg zwischen den verfassungsrechtlichen Anforderungen einerseits und den europarechtlichen Vorgaben andererseits weist. Der Abwägung im Einzelfall können sich die Fachgerichte nicht entziehen; aber die Wissenschaft kann dazu beitragen, dass Karlsruhe und Luxemburg nicht als Skylla und Charybdis erscheinen.» (Seite 505)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, beanstandet Verwertung der Aussagen von zwei in der Hauptverhandlung nicht erschienenen Belastungszeuginnen vor dem Ermittlungsrichter / Schatschaschwili gegen Deutschland
Die Große Kammer nimmt mit knapper Mehrheit (9 gegen 8 Stimmen) eine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK an. Konkret ging es um Raub und räuberische Erpressung an zwei Frauen (Prostituierte) aus Lettland in Göttingen. Diese beiden Zeuginnen setzten sich nach der Aussage vor dem Ermittlungsrichter aus Angst vor Racheakten der Täter in ihre Heimat ab und waren auch nicht bereit, sich in Lettland per Video-Konferenz erneut befragen zu lassen.
In dem Urteil heißt es: «Der Gerichtshof stellt fest, dass das Tatgericht über andere belastende Beweise für die Straftat verfügte, derentwegen der Bf. für schuldig befunden worden ist. Er weist jedoch darauf hin, dass sehr wenige Verfahrensmaßnahmen ergriffen wurden, um die fehlende Möglichkeit der Verteidigung, O. und P. unmittelbar in der Hauptverhandlung kontradiktorisch zu befragen, zu kompensieren. Nach Ansicht des Gerichtshofs bedeutet die Tatsache, dem Angeklagten die Möglichkeit einzuräumen, einen wesentlichen Belastungszeugen zumindest im Vorverfahren und durch seinen Anwalt befragen zu lassen, eine wichtige Verfahrensgarantie. War diese Möglichkeit nicht gegeben, fällt das ganz erheblich ins Gewicht, wenn es um die Prüfung der umfassenden Fairness des Verfahrens im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. d geht.
Zwar trifft es zu, dass das Tatgericht die Glaubwürdigkeit der abwesenden Zeuginnen und die Zuverlässigkeit ihrer Aussagen sorgfältig geprüft und sich somit bemüht hat, die fehlende kontradiktorische Befragung der Zeuginnen auszugleichen, und der Bf. seine eigene Version des Geschehens in Göttingen schildern konnte. Angesichts der Bedeutung der Aussagen von O. und P., die einzigen Augenzeuginnen der Straftat, derentwegen der Bf. verurteilt worden ist, waren die Ausgleichsmaßnahmen jedoch unzureichend, die ergriffen wurden, um eine faire und angemessene Würdigung der Zuverlässigkeit der unkonfrontiert gebliebenen Aussagen als Beweismittel zu ermöglichen.
Der Gerichtshof ist demzufolge der Auffassung, dass das Verfahren durch dieTatsache, dass der Bf. in keinem Stadium des Verfahrens die Zeuginnen O. und P. befragen oder befragen lassen konnte, insgesamt nicht fair war.» (Seite 511)
Dem Urteil sind zwei zustimmende Sondervoten (Spielmann, Karakaș Sajó und Keller sowie separat Kjølbro) beigegeben. (Seiten 528, 531)
Das dritte Sondervotum (Hirvelä, Popović, Pardalos, Nußberger, Mahoney und Kūris) hält das Ergebnis für falsch:
«Entgegen der Mehrheit denken wir jedoch, dass das Landgericht über andere, sehr überzeugende und kohärente belastende Beweismittel betreffend den in Tateinheit mit räuberischer Erpressung begangenen Raub, dessen der Bf. für schuldig befunden wurde, verfügte. Zu diesen Beweismitteln gehörte nicht nur eine vollständige Schilderung des Vorfalls durch zwei andere Zeuginnen (die Nachbarin der Zeuginnen, E., und ihre Freundin L.), allerdings lediglich in Form von Aussagen von Zeugen vom Hörensagen. Diese Beweismittel wurden ferner umfassend durch sehr gewichtige unmittelbare und zuverlässige technische Daten gestützt. Hierzu zählten insbesondere die Geolokalisierungsdaten und die Aufzeichnungen der beiden Telefongespräche, aus denen hervorging, dass sich der Bf. in einer Wohnung in dem Gebiet befand, in dem die Tat begangen wurde.
(...) Wir müssen im Übrigen auf das eigene Geständnis des Bf. hinweisen, der in der Verhandlung eingeräumt hat, dass er zur Tatzeit sehr wohl in der Wohnung der beiden Zeuginnen gewesen und vom Balkon gesprungen sei, um P. zu verfolgen.» (Seite 530)
Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, erklärt die Nichtigkeits- und Schadensersatzklage einer an die Polizeimission der EU (EUPM) in Bosnien und Herzegowina abgeordneten nationalen Bediensteten für zulässig / Rs. H.
Die Klägerin ist eine italienische Richterin, die durch Dekret des italienischen Justizministers zur EUPM nach Sarajewo abgeordnet wurde. Die Abordnung wurde zweimal mit der Verwendung als „Chief Legal Adviser“ verlängert.
Mit ihrer Klage, die vom EuG für unzulässig, vom EuGH jedoch für zulässig erklärt wurde, wehrt sie sich dagegen, dass der Personalleiter der EUPM sie gegen ihren Willen mit der Verwendung als „Criminal Justice Adviser – Prosecutor“ in das Regionalbüro nach Banja Luka versetzt hat.
Entgegen der Ansicht des EuG gelangt der EuGH (Große Kammer) als Rechtsmittelinstanz zu dem Ergebnis, dass die in Art. 24 EUV und Art. 275 AEUV geregelte Unzuständigkeit der Unionsgerichte für Fragen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) einschränkend auszulegen ist und nicht für die Überprüfung von Rechtsakten der Personalverwaltung gilt.
In dem Urteil heißt es: «Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die streitigen Beschlüsse, soweit damit die Versetzung der Rechtsmittelführerin innerhalb der EUPM in Bosnien und Herzegowina angeordnet wurde, Rechtsakte der Personalverwaltung darstellen, die die Umverteilung der Mitglieder der Mission im Einsatzgebiet bezwecken, und nicht, wie das Gericht im Wesentlichen in den Rn. 45 und 46 des angefochtenen Beschlusses festgestellt hat, Rechtsakte, die Fragen im Zusammenhang mit der Abordnung im Sinne von Art. 8 Abs. 2 des Beschlusses 2009/906 betreffen. Somit stellen diese Beschlüsse, obgleich sie im Zusammenhang mit der GASP erlassen wurden, keine Rechtsakte nach Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 275 Abs. 1 AEUV dar. Folglich fallen sie gemäß den in der vorstehenden Randnummer angeführten allgemeinen Bestimmungen des AEU-Vertrags in die Zuständigkeit des Unionsrichters.»
Über die Begründetheit der Klage hat jetzt, nach Zurückverweisung der Sache, zunächst das EuG zu entscheiden. (Seite 535)
EuGH weist Schadensersatzklage gegen EU-Kommission und EZB wegen Vermögensminderung als Folge der Auflagen für die vom ESM der Republik Zypern 2013 gewährte Finanzhilfe (4,5 Mrd. Euro) zur Banken-Rekapitalisierung ab / Rs. Ledra Advertising
Die Große Kammer stellt fest: «Unter Berücksichtigung des Ziels, die Stabilität des Bankensystems im Euro-Währungsgebiet sicherzustellen, und in Anbetracht der den Einlegern bei den beiden betroffenen Banken im Fall von deren Zahlungsunfähigkeit unmittelbar drohenden Gefahr finanzieller Verluste stellen solche Maßnahmen keinen unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff dar, der das gewährleistete Eigentumsrecht der Rechtsmittelführer in ihrem Wesensgehalt antastet. Sie können daher nicht als ungerechtfertigte Beschränkungen dieses Rechts angesehen werden (...).
Angesichts dessen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kommission dadurch, dass sie die Annahme der streitigen Punkte zugelassen hat, zu einer Verletzung des in Art. 17 Abs. 1 der Charta verbürgten Eigentumsrechts der Rechtsmittelführer beigetragen hat.
Daraus folgt, dass die erste Voraussetzung für die Begründung der außervertraglichen Haftung der Union im vorliegenden Fall nicht erfüllt ist, so dass die von den Rechtsmittelführern erhobenen Schadensersatzklagen als unbegründet abzuweisen sind.» (Seite 540)
EuGH zu dem Problem, dass der Schutz der Grundrechte eines Unionsbürgers, weil er von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht, nicht zu Straflosigkeit führen soll / Rs. Petruhhin
Der EuGH war vom Obersten Gerichtshof Lettlands mit einem Fall befasst worden, bei dem ein auf der Fahndungsliste von Interpol stehender Este in Lettland festgenommen worden war, dessen Auslieferung Russland zur Strafverfolgung wegen versuchten bandenmäßigen Handels mit großen Mengen Rauschgift beantragt hatte. Der Generalstaatsanwalt der Republik Lettland stimmte der Auslieferung zu, da der Schutz vor Auslieferung nur für die eigenen Staatsbürger vorgesehen sei. Auf der anderen Seite, so das Problem, hat die lettische Justiz keine Kompetenz einen Esten wegen einer Auslandsstraftat zu verfolgen.
Der Betroffene beruft sich vor den lettischen Gerichten auf ein Rechtshilfeabkommen, in dem sich die drei baltischen Staaten untereinander verpflichtet haben, jedem Bürger des jeweils anderen Staates die gleichen Rechte wie ihren eigenen Bürgern zu gewähren. Demzufolge müsse ihn Lettland vor einer Auslieferung an Russland schützen.
Das vorlegende Gericht hebt hervor, in den relevanten internationalen Abkommen gebe es keinerlei Vorbehalt, der eine Auslieferung eines Esten an Russland verbiete. Dieser Schutz sei nur für lettische Staatsbürger vorgesehen. Andererseits garantiere die Unionsbürgerschaft (hier des Esten) jedem EU-Ausländer einen äquivalenten Schutz wie einem Inländer.
Der EuGH (Große Kammer) gelangt zu dem Ergebnis, dass eine Nichtbeachtung des Diskriminierungsverbots (Art. 18 AEUV) zu einer Beschränkung der Freizügigkeit (Art. 21 AEUV) führt. Um einer Straflosigkeit entgegenzuwirken müsse hier der Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene hat, im Wege der loyalen Zusammenarbeit informiert werden und ihm Gelegenheit gegeben werden, mittels eines Europäischen Haftbefehls den mutmaßlichen Täter zu Verfolgungszwecken überstellt zu bekommen. Dies unter der Voraussetzung, dass dieser Staat die Kompetenz hat, Auslandsstraftaten seiner Staatsangehörigen zu ahnden.
Schließlich wiederholt der EuGH, um den Schutz aus Art. 19 GRCh zu gewährleisten, genüge es nicht, darauf hinzuweisen, dass der ersuchende Staat Vertragspartei der EMRK sei. Vielmehr müsse der ersuchte Staat vor einer Auslieferung selbst prüfen, ob das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht. (Seite 546)
EuGH spricht sich grundsätzlich gegen die wegen einer (verbüßten) Freiheitsstrafe von einem Jahr drohende Ausweisung einer drittstaatsangehörigen Mutter eines Kleinkindes mit Unionsbürgerschaft aus, dem sie Unterhaltgewährt, konzediert jedoch die Prüfung außergewöhnlicher Umstände / Rs. CS
Die Große Kammer entscheidet auf Vorlage des Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber) [Obergericht (Senat für Einwanderung und Asyl)] im Vereinigten Königreich:
«Art. 20 AEUV [Unionsbürgerschaft] ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein wegen einer Straftat verurteilter Drittstaatsangehöriger auch dann in den Drittstaat auszuweisen ist, wenn er tatsächlich für ein Kleinkind sorgt, das die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt, in dem es sich seit seiner Geburt aufgehalten hat, ohne von seinem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht zu haben, und das wegen der Ausweisung des Drittstaatsangehörigen das Gebiet der Europäischen Union verlassen müsste, so dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt würde. Unter außergewöhnlichen Umständen darf ein Mitgliedstaat jedoch eine Ausweisungsverfügung erlassen, sofern sie auf dem persönlichen Verhalten des Drittstaatsangehörigen beruht, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen muss, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des Mitgliedstaats berührt, und die verschiedenen einander gegenüberstehenden Interessen berücksichtigt werden. Es ist Sache des nationalen Gerichts, dies zu überprüfen.» (Seite 551)
EuGH stuft Scheinbewerbung auf eine ausgeschriebene Stelle mit dem alleinigen Ziel der Erlangung eines Entschädigungsanspruchs wegen Diskriminierung als Rechtsmissbrauch ein / Rs. Kratzer
Die Erste Kammer stellt fest: «Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs darf sich niemand in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Europäischen Union berufen. (...) Es ist Sache des nationalen Gerichts, gemäß den Beweisregeln des nationalen Rechts – soweit dadurch die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigt wird – festzustellen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen eines missbräuchlichen Verhaltens im Ausgangsverfahren erfüllt sind.» (Seite 555)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, präzisiert die strengen Voraussetzungen für eine ärztliche Zwangsbehandlung eines nicht einsichtsfähigen Betreuten
Der Erste Senat stellt seinem Beschluss, der auf Vorlage des Bundesgerichtshofs ergeht, folgende Leitsätze voran:
«1. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgt die Schutzpflicht des Staates, für nicht einsichtsfähige Betreute bei drohenden erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen unter strengen Voraussetzungen eine ärztliche Behandlung als letztes Mittel auch gegen ihren natürlichen Willen vorzusehen.
2. a) Im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG kann Vorlagegegenstand auch eine Norm sein, bei der das Gericht eine Ausgestaltung vermisst, die nach dessen plausibel begründeter Überzeugung durch eine konkrete verfassungsrechtliche Schutzpflicht geboten ist.
b) Besteht ein gewichtiges objektives Bedürfnis an der Klärung einer durch eine Vorlage aufgeworfenen Verfassungsrechtsfrage, kann die Vorlage trotz Erledigung des Ausgangsverfahrens durch den Tod eines Hauptbeteiligten zulässig bleiben.»
Dem Gesetzgeber wird aufgegeben, «die festgestellte Schutzlücke für Betreute, die bei einem drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln können, und deshalb notfalls auch auf Schutz durch ärztliche Versorgung gegen ihren natürlichen Willen angewiesen sind, unverzüglich zu schließen». (Seite 558)
BVerfG sieht in der unterschiedlichen beweisrechtlichen Gewichtung des Schweigerechts eines Angeklagten in Großbritannien und Deutschland keinen Hinderungsgrund für eine Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls zur Strafverfolgung wegen Mordes
Die 2. Kammer des Zweiten Senats bestätigt eine Entscheidung des Berliner Kammergerichts, mit der die Auslieferung für zulässig erklärt wird.: «Das Kammergericht hat sich mit der Vorschrift in § 35 Criminal Justice and Public Order Act 1994 auseinandergesetzt und festgestellt, dass Schweigen und die Nichtbeantwortung einzelner Fragen nach dieser Regelung im Rahmen der Beweiswürdigung zum Nachteil des Beschuldigten gewertet werden könnten. Unter Verweis auf den Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 22. Juni 1992 (2 BvR 1901/91, juris) hat es hierin jedoch kein Auslieferungshindernis gesehen, da § 38 Abs. 3 desselben Gesetzes klarstelle, dass das in § 35 genannte Aussageverhalten nicht alleinige Grundlage einer Verurteilung sein könne.
Diese Bewertung hält einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand. Zwar wird die Selbstbelastungsfreiheit, wie sie durch das Grundgesetz gewährleistet wäre, durch den Criminal Justice and Public Order Act 1994 eingeschränkt. Die Einschränkung berührt jedoch nicht den Kernbereich der Selbstbelastungsfreiheit und lässt daher keine Verletzung der unantastbaren Menschenwürde besorgen.
Insbesondere wird das Schweigerecht des Beschuldigten durch § 35 Criminal Justice and Public Order Act 1994 nicht aufgehoben. Es wird nicht geltend gemacht und ist auch nicht ersichtlich, dass der Beschuldigte im ersuchenden Staat von den Strafverfolgungsbehörden oder von einem Gericht zu einer Aussage gezwungen werden könnte, was mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Vielmehr hat der Beschuldigte auch unter dem Criminal Justice and Public Order Act 1994 das Recht zu schweigen. Zwar unterliegt sein Schweigen unter Umständen der Beweiswürdigung und kann zu seinem Nachteil verwendet werden, wodurch mittelbar ein Aussagedruck entstehen kann. Dies wiegt jedoch nicht so schwer wie ein Zwang zu einer Aussage oder gar zu einer Selbstbezichtigung.» (Seite 570
Zu dem hier behandelten Problemkreis cf. Herbert Landau, Verfassungsrecht und Strafrecht, EuGRZ 2016, 505 (in diesem Heft) und Tobias Reinbacher / Mattias Wendel, Menschenwürde und Europäischer Haftbefehl – Zum ebenenübergreifenden Schutz grundrechtlicher Elementargarantien im europäischen Auslieferungsverfahren, EuGRZ 2016, 333.
BVerfG beanstandet die ausländische Besucher diskriminierende Preisgestaltung eines kommunalen Freizeitbades
Der Bf. ist Österreicher und streitet mit einem Freizeitbad in Bayern um den ermäßigten Eintrittspreis, der Einheimischen vorbehalten ist. Die 3. Kammer des Zweiten Senats gibt der Vb. statt und kritisiert zudem, das OLG München habe «seine Vorlagepflicht [an den EuGH] offensichtlich unhaltbar gehandhabt, weil es sich hinsichtlich des materiellen Unionsrechts nicht hinreichend kundig gemacht hat». (Seite 576)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, sieht in der Lähmung des polnischen Verfassungsgerichts durch Regierung und Parlamentsmehrheit eindeutige Grundrechts- und Demokratiegefährdungen
Das EP nimmt mehrfach auf ein kritisches Gutachten der Venedig-Kommission des Europarates vom 11. März 2016 (veröffentlicht in HRLJ 2016, 216-227) Bezug. (Seite 581)
S.a. die beleidigende Reaktion der polnischen Regierung auf ein zweites, vom Generalsekretär des Europarates beantragtes, Gutachten. Anm. d. Red. auf S. 584 (in diesem Heft).
BVerfG billigt Zustimmung der Bundesregierung zur Unterzeichnung und vorläufigen Anwendung des Freihandelsabkommens der EU mit Kanada (Comprehensive Economic and Trade Agreement, CETA) unter Auflagen
Der Zweite Senat formuliert dies in seinem Urteil folgendermaßen: «Sollte sich entgegen der Annahme des Senats ergeben, dass die Bundesregierung die von ihr angekündigten Handlungsoptionen zur Vermeidung eines möglichen Ultravires-Aktes oder einer Verletzung der Verfassungsidentität nicht realisieren kann, verbleibt ihr in letzter Konsequenz die Möglichkeit, die vorläufige Anwendung des Abkommens nach Art. 30.7 Abs. 3 Buchstabe c CETA-E durch schriftliche Notifikation zu beenden. Zwar erscheint diese Auslegung nicht zwingend. Sie ist von der Bundesregierung jedoch als zutreffend vorgetragen worden. Dieses Verständnis hat die Bundesregierung in völkerrechtlich erheblicher Weise zu erklären und ihren Vertragspartnern zu notifizieren.»
Der ausgehandelte Entwurf besteht aus 30 Kapiteln und zusätzlich aus Protokollen, Anhängen, Erklärungen, Gemeinsamen Erklärungen, Vereinbarungen und Fußnoten zu den Bestandteilen des Abkommens.
Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung werden nach Maßgabe der Gründe abgelehnt. Antragsteller sind 193.092 Bf. und im Organstreitverfahren die BT-Fraktion Die Linke. (Seite 584)
BVerfG erlässt einstweilige Anordnung gegen Einschränkungen von Ton-, Film- und Bildaufnahmen in Teilen einer sitzungspolizeilichen Anordnung des Vorsitzenden eines Strafsenats des OLG München, in denen es (bei zwei von drei Punkten) eine Verletzung der Pressefreiheit sieht. (Seite 595)