EuGRZ 2007
20. September 2007
34. Jg. Heft 15-18

Informatorische Zusammenfassung

Thomas Roeser, Frankfurt (Oder), behandelt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundrecht auf Asyl und zum Ausländerrecht in den Jahren 2005 und 2006
Der Beitrag schließt an vorangegangene Berichte des Autors an, die den Zeitraum von 1996 bis 2004 umfassten (vgl. erstmals EuGRZ 1998, 429 ff.).
Angesichts zwischenzeitlich eingetretener Entwicklungen stellt Roeser fest: «In den letzten Jahren war ein kontinuierlicher Rückgang der Verfassungsbeschwerden zum Asylrecht – und damit auch von Entscheidungen des BVerfG zu dieser Thematik – zu beobachten. Hingegen ist im Bereich des Ausländerrechts einschließlich des Auslieferungsrechts die Talsohle möglicherweise erreicht. Auch inhaltlich nimmt die Bedeutung des Asylrechts für das BVerfG offenbar immer mehr ab. Grundlegend klärungsbedürftige verfassungsrechtliche Fragen, die einer Senatsentscheidung bedürfen, bleiben dem Ausländerrecht und Auslieferungsrecht vorbehalten. Betrachtet man die von Jahr zu Jahr immer weiter zurückgehende Zahl neuer Asylanträge in der Bundesrepublik Deutschland, kann diese Entwicklung nicht überraschen. Damit hat sich innerhalb von wenig mehr als zehn Jahren eine deutliche Verschiebung bei der Befassung des BVerfG mit dem Asyl- und Ausländerrecht vollzogen. Derzeit deutet nichts darauf hin, dass sich in absehbarer Zeit hieran etwas ändern wird.»
Im Berichtszeitraum 2005/2006 hat das BVerfG sieben Verfassungsbeschwerden aus dem Bereich des Asylrechts und sechs Verfassungsbeschwerden aus dem Sachgebiet des Ausländerrechts stattgegeben. Dem Ausländerrecht hinzuzurechnen sind eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde zum Recht der Abschiebungshaft und ein erfolgreicher Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Darüber hinaus betreffen drei stattgebende Entscheidungen das Auslieferungsrecht (zuzüglich einem erfolgreichen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung) sowie eine Reihe von erfolgreichen Verfassungsbeschwerden in Zusammenhang mit der Gewährung staatlicher Leistungen an ausländische Staatsbürger.
Abgesehen von zahlreichen Kammerentscheidungen, sind zu dem hier behandelten Themenkreis in den Jahren 2005/2006 lediglich vier Senatsentscheidungen ergangen: eine zum Aufenthaltsrecht (erleichterte Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ein in Deutschland geborenes Kind unter Anküpfung an den Aufenthaltstitel der Mutter); eine zur Gewährung staatlicher Leistungen (Erziehungsgeld für Ausländer) und zwei zum Auslieferungsrecht (das Urteil zum Europäischen Haftbefehl und der Beschluss zur Auslieferung an die USA bei drohender lebenslanger Freiheitsstrafe). (Seite 397)
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, qualifiziert die ungeregelte Überwachung von Telefon-, E-Mail- und Internetnutzung durch einen Arbeitgeber als Verletzung des Rechts auf Achtung der Privatsphäre / Copland gegen Vereinigtes Königreich
Zur Reichweite des unter Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens führt der EGMR aus: «Die Bf. wurde im vorliegenden Fall nicht gewarnt, dass ihre Telefongespräche überwacht werden könnten, sie hat deshalb vernünftigerweise erwarten können, dass die von ihrem Arbeitsplatz aus geführten Telefongespräche als Teil ihrer Privatsphäre angesehen werden. Dieselbe Erwartung sollte auch in Bezug auf E-Mail- und Internet-Nutzung der Bf. gelten.»
Zum Schutz vor Willkür und Machtmissbrauch öffentlicher Stellen setzt Art. 8 EMRK nach gefestigter ständiger Rechtsprechung eine gesetzliche Regelung voraus:
«Dementsprechend war – wegen des Fehlens eines innerstaatlichen Gesetzes zu den einschlägigen Überwachungsfragen zur maßgeblichen Zeit – der Eingriff im vorliegenden Fall nicht „gesetzlich vorgesehen“, wie Art. 8 Abs. 2 EMRK es erfordert. Der Gerichtshof will nicht ausschließen, dass die Überwachung der Telefon-, E-Mail- oder Internet-Nutzung eines Angestellten am Arbeitsplatz in bestimmten Situationen zur Verfolgung eines legitimen Zwecks als „notwendig in einer demokratischen Gesellschaft“ angesehen werden kann. In Anbetracht der vorstehenden Schlussfolgerungen ist es jedoch nicht notwendig, zu dieser Frage im vorliegenden Fall Stellung zu nehmen.»
Die Bf. ist seit 1991 bei einer öffentlichen Bildungseinrichtung, dem Carmarthenshire College, beschäftigt, seit 1995 als persönliche Assistentin des Kolleg-Leiters. Die Regierung trägt zwar vor, die Kontrollen seien erfolgt, um zu prüfen, ob die Bf. Kolleg-Einrichtungen in übermäßiger Weise für persönliche Zwecke benutzte. Aus dem Gesamtbild des Sachverhalts ergibt sich jedoch der Eindruck, dass es sich bei der im Jahr 1999 einige Monate dauernden Aktion eher um eine gezielte Bespitzelung der Bf. durch den stellvertretenden Kolleg-Leiter handelte. (Seite 415)
EGMR beanstandet die überlange Dauer eines zivilgerichtlichen Verfahrens (18 J., 9 M.) als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK / Herbst gegen Deutschland
Der Ausgangsfall betrifft eine am 30.11.1982 vor dem LG Hannover erhobene Schadensersatzklage wegen Nichtbestehens des ersten juristischen Staatsexamens nach rechtswidrig fehlerhafter Schlechtbeurteilung zweier Prüfungsarbeiten. Zur Stützung seiner Argumentation hatte der Bf. Gutachten von fünfzehn Rechtswissenschaftlern vorgelegt. Mit Schlussurteil vom 18.9.2001 sprach das OLG Celle als Ersatz für ein entgangenes Monatsgehalt im Referendardienst 1.500,– DM [667,– Euro] und ein Schmerzensgeld von 10.000,– DM [5.113,– Euro] zu.
Der EGMR wiederholt seinen Hinweis, dass der Bf. nicht verpflichtet war, in seiner Verfassungsbeschwerde die Verfahrensdauer zu rügen. Da das BVerfG nicht befugt ist, überhaupt Schadensersatz zuzuerkennen, könne die Verfassungsbeschwerde nicht als wirksamer Rechtsbehelf für bereits geschehene Verletzungen des Gebots der „angemessenen Frist“ angesehen werden. (Seite 420)
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), Luxemburg, zur Durchbrechung der Rechtskraft eines unter Missachtung elementarer Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergangenen innerstaatlichen Gerichtsurteils / Rs. Lucchini
Es geht um die Rückforderung einer Beihilfe im Eisen- und Stahlsektor, deren Auszahlung durch die in der Sache zuständige italienische Behörde mit zivilgerichtlichen Urteilen erzwungen wurde, obwohl die Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Beihilfe bereits für rechtswidrig erklärt hatte.
Der EuGH stellt fest: «Das Gemeinschaftsrecht steht der Anwendung einer auf die Verankerung des Grundsatzes der Rechtskraft abzielenden Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile entgegen, soweit ihre Anwendung die Rückforderung einer unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gewährten Beihilfe behindert, deren Unvereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt durch eine bestandskräftig gewordene Entscheidung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften festgestellt worden ist.» (Seite 426)
EuGH präzisiert Kriterien für die Haftung des Staates bei gemeinschaftsrechtswidrig geschäftsschädigenden Äußerungen „mit Amtsautorität“ eines Beamten / Rs. AGM
Der Beamte war mit Sicherheitsbedenken gegen bestimmte, aus Italien nach Finnland importierte, Fahrzeug-Hebebühnen an die Öffentlichkeit (Presse und Fernsehen) gegangen, obwohl sein höherer Vorgesetzter das vorhandene Beweismaterial für nicht ausreichend hielt. Im Ausgangsverfahren klagt der italienische Hersteller auf Schadensersatz wegen Umsatz- und Gewinneinbußen. Seinen Anspruch stützt er auf Verletzung der Binnenmarkt-Richtlinie 98/37/EG über Maschinen.
Zur Staatshaftung heißt es: «Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Mitgliedstaat Schäden, die dem Einzelnen entstanden sind, unter drei Voraussetzungen zu ersetzen: Die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen; der Verstoß ist hinreichend qualifiziert; und zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang. Die Beurteilung dieser Voraussetzungen hängt von der jeweiligen Fallgestaltung ab.»
Für die Zurechenbarkeit der Äußerungen heißt es in dem Urteil: «Um Äußerungen eines Beamten dem Staat zurechnen zu können, kommt es entscheidend darauf an, ob die Empfänger dieser Äußerungen den Umständen nach annehmen dürfen, dass der Beamte diese Äußerungen mit Amtsautorität macht.» (Seite 431)
EuGH bekräftigt die Grundsätze der Gleichwertigkeit und der Effektivität beim vorläufigen Rechtsschutz gegen Verletzungen des Gemeinschaftsrechts (hier: der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49) / Rs. Unibet
Das in London ansässige international tätige Wettbüro-Unternehmen „Unibet“ hatte im November 2003 bei mehreren schwedischen Medienunternehmen Anzeigenflächen und Werbezeiten gebucht, um für ihre über das Internet angebotenen Wetten zu werben. Der schwedische Staat ergriff gegenüber den schwedischen Medienunternehmen auf das Lotteriegesetz gestützte Gegenmaßnahmen. Unibet klagte vor den schwedischen Gerichten auf Feststellung, dass sie nach Art. 49 EG das Recht habe, in Schweden für ihre Spiel- und Wettdienste zu werben, ohne durch das Verbot in § 38 Lotteriegesetz daran gehindert zu werden. Unibet klagte zweitens auf Schadensersatz und beantragte drittens im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Feststellung, dass Verbot und Sanktionen aus § 38 Lotteriegesetz ihr gegenüber nicht angewendet werden dürfen.
Der EuGH führt aus: «Der Grundsatz effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte ist dahin auszulegen, dass er nicht verlangt, dass es in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats einen eigenständigen Rechtsbehelf gibt, der mit dem Hauptantrag auf die Prüfung der Vereinbarkeit nationaler Vorschriften mit Art. 49 EG gerichtet ist, wenn andere Rechtsbehelfe, die nicht weniger günstig ausgestaltet sind als entsprechende nationale Klagen, die Prüfung dieser Vereinbarkeit als Vorfrage ermöglichen; es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob dies der Fall ist.» (Seite 439)
EuGH stärkt die Rechte der Krankenversicherten in Griechenland und wertet generellen Ausschluss der Kostenerstattung für die Behandlung in ausländischer Privatklinik durch nationalen Versicherungsträger als Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit / Rs. Stamatelaki
Das Urteil kommt zu dem Ergebnis, die festgestellte Beschränkung ließe sich aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses rechtfertigen, doch dürfe sie nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen:
«Wie der Generalanwalt in Nr. 70 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist die Absolutheit – außer für Kinder im Alter von bis zu 14 Jahren – des von der griechischen Regelung ausgesprochenen Verbots nicht mit dem verfolgten Ziel vereinbar, da weniger einschneidende und den freien Dienstleistungsverkehr besser wahrende Maßnahmen ergriffen werden könnten, wie etwa ein System der vorherigen Genehmigung, das den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts genügt (…), und gegebenenfalls die Festlegung von Tabellen für die Erstattung von Behandlungskosten.» (Seite 445)
EuGH bestätigt Unzuständigkeit der Gemeinschaftsgerichte gem. Art. 35 EU für Schadensersatzklagen wegen der vom Rat der EU aufgestellten Terrorismus-Listen / Rs. Amnistía
Die Klage war von der baskischen Organisation Gestoras Pro Amnistía vor dem Gericht Erster Instanz (EuG) mit dem Ziel erhoben worden, Schadensersatz für die Nennung auf der Terrorismus-Liste der EU zu erlangen.
Der EuGH bestätigt das abweisende Urteil des EuG und betont, «dass die Mitgliedstaaten und insbesondere ihre Gerichte die nationalen Verfahrensvorschriften über die Einlegung von Rechtsbehelfen so auszulegen und anzuwenden haben, dass natürliche und juristische Personen die Rechtmäßigkeit jeder nationalen Entscheidung oder jeder anderen nationalen Maßnahme betreffend die Ausarbeitung oder die Anwendung einer Handlung der Europäischen Union ihnen gegenüber gerichtlich anfechten und gegebenenfalls Schadensersatz verlangen können.» (Seite 448)
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, erklärt automatisierte Abfrage von Kontostammdaten wegen Verstoßes gegen den Grundsatz der Normenklarheit teilweise für verfassungswidrig
«§ 93 Abs. 8 AO verstößt gegen das Gebot der Normenklarheit, da er den Kreis der Behörden, die ein Ersuchen zum Abruf von Kontostammdaten stellen können, und die Aufgaben, denen solche Ersuchen dienen sollen, nicht hinreichend bestimmt festlegt. § 24 c Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 KWG [Gesetz über das Kreditwesen] und § 93 Abs. 7 AO sind mit dem Grundgesetz vereinbar. (…)
Die angegriffenen Normen dienen der Strafverfolgung, der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen und der gleichmäßigen Festsetzung und Erhebung von Steuern sowie – soweit vorliegend von Bedeutung – der Erhebung von Sozialabgaben und der Überprüfung der Leistungsberechtigung bei Sozialleistungen. Dabei handelt es sich um legitime Zwecke. (…)
Das automatisierte Verfahren soll Ermittlungsbedürfnissen Rechnung tragen, die angesichts der großen Zahl von weit über 2000 Kreditinstituten in Deutschland (…) durch manuelle Einzelanfragen nicht befriedigt werden könnten. Dabei soll sichergestellt werden, dass die betroffene Bank nichts von dem Abruf erfährt. Dies soll Bankkunden davor schützen, dass die Banken Abrufe zum Anlass eigener Untersuchungen nehmen, etwa im Hinblick auf die Kreditwürdigkeit ihrer Kunden.
Abrufe nach § 24 c KWG erlauben die Feststellung der Existenz von Konten und Depots und die Verknüpfung mit dem Inhaber, Verfügungsberechtigten oder wirtschaftlich Berechtigten. Dagegen eröffnet die Norm keinen Zugriff auf die Inhalte der Konten oder Depots.» (Seite 454)
BVerfG unterstreicht den grundrechtlichen Anspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG auch auf effektiven vorläufigen Rechtsschutz (hier: gegen eine für sofort vollziehbar erklärte Ausweisungsverfügung) und setzt sich mit der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK auseinander
Der Bf. ist ein 1980 in Deutschland geborener und mehrfach wegen Drogendelikten vorbestrafter serbischer Staatsangehöriger.
In dem Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats heißt es: «Der Verwaltungsgerichtshof durfte indes von Verfassungs wegen nicht darauf verzichten, das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der angefochtenen Ausweisungsverfügung zu untersuchen und gegebenenfalls mit den Aufschubinteressen des Beschwerdeführers abzuwägen, weil das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes jedenfalls im vorliegenden Fall – wie das Verwaltungsgericht der Sache nach zutreffend dargelegt hat – keine geeignete Grundlage für eine hinreichend zuverlässige Prognose der Erfolgsaussichten der Klage bietet. Die Streitsache ist von hoher Komplexität und gebietet eine vertiefte Befassung mit Fragen des Verfassungsrechts und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss.» (Seite 467)
BVerfG zur Reichweite des Gesetzesvorbehalts bei Anordnung von Abschiebungshaft
Der 1972 in Deutschland geborene Bf. ist spanischer Staatsangehöriger, erwerbslos und mehrfach wegen Diebstahls vorbestraft. Seit 1997 ist er mehr als fünfzehn mal abgeschoben worden, da er unmittelbar nach jeder Abschiebung wieder nach Deutschland einreiste. Seine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen die Dauer der letzten Abschiebungshaft, die mit administrativen Gegebenheiten begründet wurde. (Seite 472)
BVerfG wertet Überwachung der Telekommunikation des Rechtsanwalts von El Masri als unverhältnismäßig
«Die herausgehobene Bedeutung der unkontrollierten Berufsausübung eines Rechtsanwalts gebietet die besonders sorgfältige Beachtung der Eingriffsvoraussetzungen und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und hätte die Fachgerichte vorliegend zu einer Ablehnung der Anordnung veranlassen müssen.» (Seite 474)
BVerfG beanstandet Überwachung des Telefonverkehrs eines Strafverteidigers mit seinem Mandanten
Das BVerfG sieht eine Verletzung des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 Abs. 1 GG) und der Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG). (Seite 477)
BVerfG bestätigt die Neuregelung der akustischen Wohnraumüberwachung in § 100 c StPO als verfassungsgemäß
Die 3. Kammer des Zweiten Senats stellt fest: «Der Gesetzgeberhat die verfassungsrechtlichen Maßstäbe, die der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil vom 3. März 2004 [EuGRZ 2004, 163 – Großer Lauschangriff] entwickelt hat, beachtet.» (Seite 482)
BVerfG unterstreicht Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) auch des Gewerbetreibenden
Bei einem Gewerbetreibenden, der nicht in der Handwerksrolle eingetragen ist, steht Kontrolleuren der Handwerkskammer kein Recht auf „Hausbesichtigung und/oder Betriebsbesichtigung“ gem. § 17 Abs. 2 HandwO gegen den Willen des Betroffenen zu. (Seite 486)
BVerfG wertet „Anti-Strafzettel“ einer Bürgerinitiative gegen versteckt angebrachtes Verkehrszeichen (Parkscheibenzone) nicht als Rechtsberatung, sondern als freie Meinungsäußerung
«Wird durch das Verbot einer Beratungstätigkeit zugleich eine über den Zweck der Beratung hinausgehende Meinungsäußerung unterdrückt, die mit der Beratung untrennbar verbunden ist und der die Beratung als Protestmittel dient, muss bei der erforderlichen Zuordnung der widerstreitenden Belange auch der wertsetzenden Bedeutung der Meinungsfreiheit (…) Rechnung getragen werden.» (Seite 490)
BVerfG qualifiziert unterschiedliche Regelung der Unterhaltsansprüche für einen Elternteil wegen der Pflege oder Erziehung von ehelichen und von nichtehelichen Kindern als diskriminierend
«Die unterschiedliche Regelung der Unterhaltsansprüche wegen der Betreuung von Kindern in § 1570 BGB einerseits und in § 1615 l Abs. 2 Satz 3 BGB andererseits ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Sie verstößt gegen das in Art. 6 Abs. 5 GG an den Gesetzgeber gerichtete Gebot, nichtehelichen Kindern gleiche Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung zu schaffen wie ehelichen Kindern.» (Seite 493)
Bundesgerichtshof (BGH), Karlsruhe, konturiert unter Berücksichtigung des EGMR-Urteils im Fall Caroline von Hannover (EuGRZ 2004, 404) den „geschützten Kernbereich der Privatsphäre“ auch von Prominenten und das Kriterium des „zeitgeschichtlichen Ereignisses“ für den Vorrang der Pressefreiheit
In einer Reihe von Entscheidungen, die auf Klagen der Caroline von Hannover bzw. ihres Ehemannes zurückgehen, verdeutlicht der VI. Zivilsenat des BGH seine Rechtsprechungslinie. Hervorgehoben ist ein Leitsatz-Urteil, in dem drei Sachverhaltsvarianten (2x Privatsphäre, 1x zeitgeschichtliches Ereignis) behandelt werden.
Der Leitsatz des VI. Zivilsenats zum Urteil vom 6. März 2007 (VI ZR 51/06) lautet: «Zur Illustrierung der Berichterstattung über ein zeitgeschichtliches Ereignis kann eine Veröffentlichung von Bildaufnahmen Prominenter nach einer Abwägung der widerstreitenden Rechte und Grundrechte der abgebildeten Person aus Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK mit den Rechten der Presse aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 10 EMRK auch ohne Einwilligung zulässig sein.»
Vorrang der Privatsphäre sieht der BGH bei Fotos der Klägerin (Caroline von Hannover) mit Ehemann im Winterurlaub auf der Straße und im Ski-Lift. Hierzu führt der Senat u.a. aus: «Bei der erforderlichen Abwägung zwischen der Pressefreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Klägerin ist nach den oben wiedergegebenen Grundsätzen der Rechtsprechung zu beachten, dass es eine entscheidende Rolle spielt, ob die Presse eine neue und wahre Information von allgemeinem Interesse für die öffentliche Meinungsbildung mitteilt oder ob der Informationswert für die Öffentlichkeit – wie hier – wesentlich in der Unterhaltung ohne gesellschaftliche Relevanz besteht (…). Im letzten Fall besteht kein berücksichtigenswertes Informationsinteresse der Öffentlichkeit, das eine Bildveröffentlichung entgegen dem Willen des Abgebildeten erlaubte (§ 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG); die abgebildete Person muss die regelmäßig in der Bildveröffentlichung liegende Beeinträchtigung ihrer Privatsphäre und damit ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht ohne Einwilligung hinnehmen (§ 22 KUG).»
Vorrang der Pressefreiheit ist gegeben, wenn die Ferien-Bilder in der Wortberichterstattung im Zusammenhang mit der Krankheit des damals regierenden Fürsten von Monaco, einem zeitgeschichtlichen Ereignis, und dem Ferienverhalten von Familienangehörigen gesehen werden. (Seite 499)
BGH zum „geschützten Kernbereich der Privatsphäre“
Das Foto, das die Klägerin (Caroline von Hannover) zusammen mit ihrem Ehemann im Urlaub auf einer öffentlichen Straße zeigt, und die damit verbundene Wortberichterstattung über die Vermietung einer privaten Villa des Ehepaares in Kenia betreffen keinen „Vorgang von allgemeinem Interesse und kein zeithistorisches Ereignis“. (Seite 503)
BGH zum „zeitgeschichtlichen Ereignis“ mit Vorrang der Pressefreiheit
Gegenstand der Wortberichterstattung war die Erkrankung des damals regierenden Fürsten von Monaco und das Ferienverhalten von Familienangehörigen. Bebildert war der Bericht mit einem Foto, das die Klägerin (Caroline von Hannover) neben ihrem Ehemann auf einer Straße in St. Moritz zeigte. (Seite 504)
Europäisches Parlament (EP), Straßburg, unterzieht das Mandat für die Regierungskonferenz 2007 zur Ausarbeitung eines Reformvertrags einer kritischen Bewertung
Das EP erinnert daran, dass die Europäische Union sich vor der ganzen Welt zu einer «Wertegemeinschaft» erklärt hat und hält es deshalb für einen «dramatischen Rückschlag und eine schwere Beschädigung des innersten Selbstverständnisses der Europäischen Union», wenn ein oder mehrere Mitgliedstaaten ein „opt out“ von der Charta der Grundrechte für sich in Anspruch nehmen. Das EP sieht darin eine «innere Spaltung». (Seite 505)
Staatsduma der föderalen Versammlung der Russischen Föderation, Moskau, blockiert nach wie vor das zur organisatorischen Entlastung des EGMR aufgelegte EMRK-Protokoll Nr. 14
Die EuGRZ veröffentlicht in deutscher Übersetzung den Beschluss und das Gutachten des Ausschusses für Zivil-, Straf-, Wirtschafts- und Prozessgesetzgebung der Staatsduma, mit der die Ablehnung des Ratifikationsgesetzes im Plenum begründet wurde. (Seite 507)
EGMR erklärt Individualbeschwerde Gäfgen gegen Deutschland für zulässig
Der Bf. rügt die unterbliebene Einstellung seines Strafverfahrens wegen Mordes und erpresserischen Menschenraubs. Auf Weisung war dem Bf. die Zufügung schwerer Schmerzen von einem Polizeibeamten angedroht worden, um die Preisgabe des Verstecks des noch am Leben geglaubten entführten Kindes zu erreichen. (Seite 508)
EuGH-Generalanwalt Poiares Maduro zur Fortentwicklung der Rechtsprechung bei Zugangs-Gewährung zu Dokumenten der EU-Organe / Rs. Schweden gegen Kommission
Konkret geht es um den Schriftwechsel der Bundesregierung und des Bundeskanzlers wegen Entwidmung eines Naturschutzgebiets (Mühlenberger Loch) zugunsten der Airbus-Produktion in Hamburg. Poiares Maduro sieht bei der Entscheidung der EU-Organe über die Freigabe der bei ihnen eingelangten Dokumente kein Veto-, sondern nur ein Anhörungsrecht der beteiligten Regierungen. (Seite 516)