EuGRZ 2014
29. August 2014
41. Jg. Heft 13-16

Informatorische Zusammenfassung

Till Patrick Holterhus, Düsseldorf, und Daniel Kornack, Frankfurt am Main, untersuchen „die materielle Struktur der Unionsgrundwerte“ und prüfen „Auslegung und Anwendung des Art. 2 EUV im Lichte aktueller Entwicklungen in Rumänien und Ungarn“
«Für eine umfangreiche und durchaus als Grundstein einer europäischen Wertedebatte zu bezeichnende Thematisierung der Gefährdung europäischer Grundwerte sorgte im Jahr 2000 die erstmalige Beteiligung der als „rechtspopulistische Partei mit extremistischer Ausdrucksweise“ angesehenen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) an der österreichischen Bundesregierung. Wegen vorausgegangenen, insbesondere fremdenfeindlichen Äußerungen durch Parteifunktionäre der FPÖ gingen die damals übrigen 14 Mitgliedstaaten („die XIV“) von einer Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Gemeinschaft aus.» Die zunächst gegen Österreich eingeleiteten Maßnahmen, wurden nach acht Monaten auf Empfehlung einer unabhängigen Expertenkommission (Ahtisaari/Frowein/Oreja) beendet.
«In jüngster Vergangenheit sind vor allem die osteuropäischen Mitgliedstaaten – namentlich Ungarn und die erst 2007 neu aufgenommenen Staaten Bulgarien und Rumänien – in den Fokus der Kritik geraten. Dabei fordern in Bulgarien weniger einzelne gesetzgeberische Maßnahmen als vielmehr Korruption und ein „politisch-mediale[s] Interessengeflecht“ die Werte der Europäischen Union heraus. In Rumänien und Ungarn, auf die im Rahmen dieses Beitrags ein besonderes Augenmerk gelegt werden soll, stehen dagegen mehr oder weniger klassisch staatliche Akte in Rede. (…)
Mit dem Vertrag von Amsterdam wurden erstmals (neben der Demokratie weitere) klassische Strukturmerkmale des freiheitlichen Verfassungsstaates als gemeinsame Grundsätze der Europäischen Union und der Mitgliedstaaten in das europäische Primärrecht aufgenommen. Diese waren zunächst Freiheit, Demokratie, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit. Der am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene Vertrag von Lissabon machte aus diesen Grundsätzen Werte.»
Die Autoren erarbeiten u.a. folgenden Ausblick: «Das praktische Bedürfnis einer dogmatischen und dabei insbesondere methodischen Erschließung des Art. 2 EUV als Tatbestand eines europäischen Wertesystems wird durch die Entwicklungen auf mitgliedstaatlicher Ebene in Rumänien und Ungarn allzu anschaulich belegt. Nur im Rahmen einer voranschreitenden Verrechtlichung der europäischen Grundwerte kann den sich schon im Fall Österreich manifestierten Schwierigkeiten der europäischen Institutionen bei der Bewertung und Behandlung mitgliedstaatlicher Entwicklungen in diesem Bereich abgeholfen sowie den Bedürfnissen eines Europas der gemeinsamen Grundwerte entsprochen werden. Erst eine klare Konturierung wird dabei auch der herausragenden Stellung, in die die Grundwerte durch die letzten Änderungen der Unionsverträge erhoben wurden, tatsächlich gerecht. (…)
Die Europäische Kommission ist (…) in jüngster Vergangenheit mit der Einführung neuer „Rahmenvorschriften zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union“ aktiv geworden. Ein in diesem Rahmen beschlossener Frühwarnmechanismus gibt, obgleich unterhalb der Vertragsänderung angesiedelt, dem Vorgehen der Kommission einen verbindlichen prozessualen Rahmen. (…) In einem dreistufigen Verfahren will die Kommission dabei zunächst unter Berücksichtigung von Eingaben geeigneter Institutionen (…) in einen Dialog mit dem betroffenen Mitgliedstaat eintreten. Sofern in dessen Rahmen das Problem nicht gelöst werden kann, wird die Kommission in einem zweiten Schritt dem Mitgliedstaat eine mit einer Umsetzungsfrist versehene Rechtsstaatlichkeitsempfehlung geben, deren wesentlicher Inhalt veröffentlicht wird. In einem dritten Schritt werden die Reaktionen des Mitgliedstaats untersucht und, sofern diese nicht ausreichend erscheinen, schließlich die Einleitung eines Sanktionsverfahrens gem. Art. 7 EUV geprüft.» (Seite 389)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, bestätigt Verbot unlauterer Mittel im geistigen Meinungskampf / Tierbefreier e.V. gegen Deutschland
Konkret geht es um ein gerichtliches Veröffentlichungsverbot von unter Vertrauensmissbrauch heimlich aufgenommenem Filmmaterial in einem Labor für Tierversuche, wobei das Labor – entsprechend den Bestimmungen des Tierschutzgesetzes – eine Genehmigung für Versuche an und zum Halten und Züchten von Tieren (Affen) besaß. Die Filmaufnahmen waren von einem Journalisten (M.), der sich bei der betroffenen Firma als normaler Mitarbeiter hatte anstellen lassen, mit versteckter Kamera während der Arbeitszeit gemacht worden und dokumentierten vor allem den Umgang des Personals mit den Tieren.
Nach Beendigung seines Arbeitsvertrags mit dem Labor stellte der Journalist einen zwanzigminütigen Fernsehfilm mit dem Titel „Tierversuche für den Profit“ her, von dem neun Minuten von einem großen Fernsehsender gezeigt wurden. Später wurde unter Verwendung desselben Materials ein weiterer zwanzigminütiger Film „Poisoning for Profit“ produziert, in dem behauptet wurde, die betroffene Firma würde die Rechtsvorschriften zum Umgang mit Tieren missachten. Diesen Film veröffentlichte der beschwerdeführende Verein auf seiner Website zum Herunterladen.
Der Gerichtshof macht deutlich, zwischen den Parteien sei unstreitig, dass die zivilrechtliche Unterlassungsverfügung in das Recht des Vereins auf freie Meinungsäußerung eingegriffen hat. Dieser Eingriff beruhte auf einer gesetzlichen Grundlage und diente dem Schutz des guten Rufes des Labors. Zu klären blieb, ob die Beschränkung der Meinungsfreiheit des Vereins „als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ anzusehen war. Der Gerichtshof verneint eine Verletzung von Art. 10 und stellt fest, «dass der Verein keine Beweise dafür vorgelegt hat, dass die Art und Weise, in der die Tiere auf dem Gelände der Firma C. behandelt wurden, die deutschen Vorschriften zum Tierschutz verletzten. Dies steht im Einklang mit den Feststellungen des Oberlandesgerichts Hamm in dem Verfahren betreffend die zivilrechtliche Unterlassungsverfügung gegen den Journalisten M. (…) und mit den Ergebnissen des gegen die Firma C. eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (…). Daraus folgt, dass es keine Beweise dafür gibt, dass die in dem Film „Poisoning for Profit“ erhobenen Vorwürfe, wonach die Firma C. systematisch gegen das Gesetz verstoße, zutreffend waren.»
Angesichts «der sorgfältigen Prüfung der Rechtssache durch die innerstaatlichen Gerichte, die die Bedeutung des Rechts auf freie Meinungsäußerung in einer Debatte über Angelegenheiten des öffentlichen Interesses vollständig anerkannten, ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die innerstaatlichen Gerichte einen gerechten Ausgleich zwischen dem Recht des Vereins auf freie Meinungsäußerung und dem Interesse der Firma C. am Schutz ihres Rufes herbeigeführt haben.» (Seite 401)

EGMR bewertet den Ausschluss eines mutmaßlichen biologischen Vaters von der Möglichkeit, die Stellung des rechtlichen Vaters anzufechten, nicht als Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens / Überlange Verfahrensdauer (6 J., 7 M.) hier für das materielle Ergebnis ohne Belang / Hülsmann gegen Deutschland
«Art. 8 kann dahingehend ausgelegt werden, dass er den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, zu prüfen, ob es dem Kindeswohl dient, dem biologischen Vater den Aufbau einer Beziehung zu seinem Kind zu ermöglichen, insbesondere durch die Gewährung eines Umgangsrechts (…). Dies bedeutet gegebenenfalls die Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft in einem Umgangsverfahren, wenn unter den besonderen Umständen der Rechtssache davon ausgegangen wird, dass ein Umgang zwischen dem mutmaßlichen leiblichen Vater – angenommen, dass er tatsächlich der biologische Vater des Kindes ist – und dem Kind dem Kindeswohl dienen würde (…).
Allerdings hat der Gerichtshof auch festgestellt, dass sich daraus keine konventionsrechtliche Pflicht ergibt, dem mutmaßlichen leiblichen Vater zu gestatten, die Stellung des rechtlichen Vaters anzufechten oder eine separate Klage im Hinblick auf die Feststellung der biologischen – im Gegensatz zur rechtlichen – Vaterschaft zuzulassen. (…)
Der Umstand, dass B., der rechtliche Vater des Kindes, im Dezember 2006 verstarb, führt im Ergebnis nicht zu einer anderen Bewertung. Es kann dahinstehen, ob die Entscheidung, einem leiblichen Vater die Anfechtung der Vaterschaft auch nach dem Tod des rechtlichen Vaters zu versagen, unter jedweden Umständen in den staatlichen Beurteilungsspielraum fallen würde. In jedem Fall ist festzuhalten, dass B. verstarb, als das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig war, also nach Beendigung des Verfahrens vor den Zivilgerichten, denen allein die Feststellung der hier in Frage stehenden Tatsachen oblag.» (Seite 406)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, sieht in der vorzeitigen Beendigung des Mandats des ungarischen Datenschutzbeauftragten auf Initiative der Regierung einen Verstoß gegen die Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG / Rs. Kommission gegen Ungarn
Zunächst bemerkt der EuGH: «Das Erfordernis, die Einhaltung der Unionsvorschriften über den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch eine unabhängige Stelle zu überwachen, ergibt sich auch aus dem Primärrecht der Union, nämlich aus Art. 8 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und aus Art. 16 Abs. 2 AEUV.»
Zu den Risiken möglicher politischer Einflussnahme führt der EuGH aus: «Insoweit hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass schon die bloße Gefahr einer politischen Einflussnahme auf die Entscheidungen der Kontrollstellen ausreicht, um deren unabhängige Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinträchtigen. Zum einen könnte daraus nämlich ein „vorauseilender Gehorsam“ dieser Stellen im Hinblick auf die Entscheidungspraxis der Aufsichtsstelle folgen. Zum anderen erfordert Art. 28 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 95/46 angesichts der Rolle der Kontrollstellen als Hüter des Rechts auf Privatsphäre, dass ihre Entscheidungen, also sie selbst, über jeglichen Verdacht der Parteilichkeit erhaben sind (…).
Dürfte aber ein Mitgliedstaat das Mandat einer Kontrollstelle vor seinem ursprünglich vorgesehenen Ablauf beenden, ohne die von den anwendbaren Rechtsvorschriften zu diesem Zweck im Voraus festgelegten Grundsätze und Garantien zu beachten, könnte die Drohung einer solchen vorzeitigen Beendigung, die dann während der gesamten Ausübung des Mandats über dieser Stelle schwebte, zu einer Form des Gehorsams dieser Stelle gegenüber den politisch Verantwortlichen führen, die mit dem Unabhängigkeitsgebot nicht vereinbar wäre (…). Dies gilt auchdann, wenn das vorzeitige Ende des Mandats auf einer Umstrukturierung oder einer Änderung des Modells beruht; diese sind in einer Weise zu gestalten, dass sie die Anforderungen der geltenden Rechtsvorschriften an die Unabhängigkeit erfüllen.» (Seite 410)

Gericht der Europäischen Union (EuG), Luxemburg, erklärt zwei Genehmigungen (Beschlüsse) der Kommission zum Inverkehrbringen einer genetisch veränderten, Antibiotika-resistenten Kartoffel wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften für nichtig / Rs. Ungarn gegen Kommission
Die erste Genehmigung (Beschluss 2010/135/EU) betraf den Anbau der genetisch veränderten Kartoffel zur Produktion von Stärke zu industriellen Zwecken. Die zweite Genehmigung (Beschluss 2010/136) betraf das Inverkehrbringen von Futtermitteln, die aus der genetisch veränderten Kartoffel gewonnen werden, und das zufällige Vorhandensein von Spuren dieser Kartoffelsorte in Lebensmitteln und Futtermitteln.
In einem ersten Gutachten, das die Kommission eingeholt hatte, wurde den Antibiotika, die durch die Resistenz der genetisch veränderten Kartoffel in ihrer Wirkung ausgeschaltet werden, eine nur geringe therapeutische Bedeutung beigemessen. In einem zweiten von der Kommission eingeholten (konsolidierten) Gutachten, das zu Änderungen an den Beschlussentwürfen führte, wurde der therapeutische Wert der betroffenen Antibiotika als durchaus nicht unerheblich eingestuft.
Die Verletzung wesentlicher Formvorschriften bestand darin, die geänderten Beschluss-Entwürfe den zuständigen Gremien nicht erneut vorgelegt zu haben.
Weiter heißt es in dem Urteil: «Demzufolge ist festzustellen, dass das Ergebnis des Verfahrens oder der Inhalt der angefochtenen Beschlüsse wesentlich anders hätte ausfallen können, wenn die Kommission das nach Art. 5 des Beschlusses 1999/468 vorgesehene Verfahren eingehalten hätte.
Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass das Regelungsverfahren gemäß Art. 202 dritter Gedankenstrich EG eine Durchführungsbefugnis der Kommission regelt, die ihr vom Rat in dem von ihm erlassenen Basisrechtsakt übertragen wurde. Es trägt somit zum institutionellen Gleichgewicht innerhalb der Union bei, insbesondere zwischen den Befugnissen des Rates und des Parlaments auf der einen und denen der Kommission auf der anderen Seite. Wird dieses Verfahren von der Kommission nicht beachtet, so kann dies das institutionelle Gleichgewicht innerhalb der Union beeinträchtigen.» (Seite 415)
Dass vorstehende Urteil enthält auch einen umfassenden Überblick über die auf EU-Ebene zuständigen Behörden und Gremien für Lebensmittelsicherheit.

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, zur rechtlichen Einstufung von polizeilicher Einkesselung (Dauer 2\\2 Stunden) zur Verhinderung befürchteter Ausschreitungen sowie anschließender Festnahme mit Fesselung, Gefangenentransport und Einsperren in eine Zelle (3\\2 Stunden)
Die polizeilichen Maßnahmen waren im Anschluss an die Feierlichkeiten zum 1. Mai 2011 in der Stadt Zürich zur Verhinderung von Ausschreitungen ergriffen worden.
Das Bundesgericht führt u.a. aus: «Zunächst ist unter Berücksichtigung der Ausführungen des EGMR im Urteil Austin mit dem Verwaltungsgericht davon auszugehen, dass die Festhaltung des Beschwerdeführers im Polizeikordon während rund 2\\2 Stunden für sich allein unter den gegebenen Umständen noch keinen Freiheitsentzug im Sinne von Art. 5 Ziff. 4 EMRK und Art. 31 Abs. 4 BV darstellt. (…)
In Bezug auf die polizeiliche Behandlung des Beschwerdeführers während der folgenden 3\\2 Stunden kann das Vorliegen eines Freiheitsentzugs entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht mit Rücksicht auf die besondere Gefahrenlage verneint werden. Die spezifische Gefahrenlage ist bei der Beurteilung des öffentlichen Interesses und der Verhältnismässigkeit einer Freiheitsbeschränkung von Bedeutung, kann aber nicht dazu führen, dass bereits das Vorliegen einer Freiheitsbeschränkung von vornherein verneint wird. Der Beschwerdeführer wurde nach der 2\\2-stündigen Einkesselung von der Polizei mit Kabelbindern gefesselt und mit einem Gefangenentransportfahrzeug zur Identitätsabklärung in die Polizeikaserne verbracht. Anschliessend musste er sich in einer Zelle aufhalten, ohne dass ihm ein Verstoss gegen die Rechtsordnung auch nur vorgehalten worden wäre. Die Behandlung des Beschwerdeführers durch die Polizei während dieser 3\\2 Stunden stellt eine erhebliche Beschränkung seiner Freiheit dar, die nach Art, Wirkung und Modalitäten keineswegs mehr bloss als einfache Beschränkung der Bewegungsfreiheit im Sinne von Art. 10 Abs. 2 BV bezeichnet werden kann. Auch wenn sie sich nach Auffassung der Vorinstanz in Bezug auf die Dauer am unteren Rand dessen bewegt, was nach der bisherigen Praxis zur Bejahung eines Freiheitsentzugs im Sinne von Art. 5 Ziff. 4 EMRK und Art. 31 Abs. 4 BV führte, ist namentlich wegen der einschneidenden Modalitäten des Eingriffs in die persönliche Freiheit des Beschwerdeführers (Fesselung, Gefangenentransport, Einsperrung in eine Zelle) ein Freiheitsentzug im Sinne von Art. 31 Abs. 4 BV zu bejahen.» (Seite 426)

Österreichischer Verfassungsgerichtshof (VfGH), Wien, hebt die einschlägigen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung wegen Verletzung von § 1 Datenschutzgesetz 2000 und Art. 8 EMRK als verfassungswidrig auf
Betroffen sind das Telekommunikationsgesetz, die StPO und das Sicherheitspolizeigesetz.
Der VfGH stellt fest: «Ausgangspunkt der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Vorratsdatenspeicherung ist die Einsicht, dass das Grundrecht auf Datenschutz in einer demokratischen Gesellschaft – in der hier bedeutsamen Schutzrichtung – auf die Ermöglichung und Sicherung vertraulicher Kommunikation zwischen den Menschen gerichtet ist. Der Einzelne und seine freie Persönlichkeitsentfaltung sind nicht nur auf die öffentliche, sondern auch auf die vertrauliche Kommunikation in der Gemeinschaft angewiesen; die Freiheit als Anspruch des Individuums und als Zustand einer Gesellschaft wird bestimmt von der Qualität der Informationsbeziehungen (…).
Bedeutung und Gewicht der mit der Vorratsdatenspeicherung verfolgten Ziele, wie sie der Gesetzgeber auch mit der Zweckbindung in § 102a Abs. 1 letzter Satz TKG 2003 zum Ausdruck bringt, sind erheblich. Doch auch wenn die Regelung ausweislich des Wortlauts des Abs. 1 einem wichtigen öffentlichen Interesse dient (…), ist es angesichts der „Streubreite“ des Eingriffs (…), des Kreises und der Art der betroffenen Daten (…) und der daraus folgenden Schwere des Eingriffs in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (es kann auf Daten zugegriffen werden, welche im Falle ihrer Verknüpfung nicht nur die Erstellung von Bewegungsprofilen ermöglichen, sondern auch Rückschluss auf private Vorlieben und den Bekanntenkreis einer Person zulassen (…)) erforderlich, dass der Gesetzgeber durch geeignete Regelungen sicherstellt, dass diese Daten nur bei Vorliegen eines vergleichbar gewichtigen öffentlichen Interesses im Einzelfall für Strafverfolgungsbehörden zugänglich gemacht werden und dies einer richterlichen Kontrolle unterliegt. (…)
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Erweiterung der technischen Möglichkeiten auch dazu führt, dass den Gefahren, die diese Erweiterung für die Freiheit des Menschen in sich birgt, in einer dieser Bedrohung adäquaten Weise entgegengetreten werden muss.» (Seite 429)
S.a. Vorlage-Beschluss des VfGH an den EuGH, EuGRZ 2013, 94 sowie die Schlussanträge von GA Cruz Villalón, EuGRZ 2014, 125; EuGH-Urteil, EuGRZ 2014, 292.

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, betont die dem Bundespräsidenten in seinem Amt zukommende Redefreiheit auch in Bezug auf politische Parteien (hier: NPD) – „Wir brauchen Bürger, die den Spinnernihre Grenzen aufweisen“
«Verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist auch die Verwendung des Wortes „Spinner“ im konkreten Zusammenhang. Der Antragsgegner [Bundespräsident] hat damit über die Antragstellerin [NPD] und ihre Anhänger und Unterstützer ein negatives Werturteil abgegeben, das isoliert betrachtet durchaus als diffamierend empfunden werden und auf eine unsachliche Ausgrenzung der so Bezeichneten hindeuten kann. Hier indes dient, wie sich aus dem Duktus der Äußerungen des Antragsgegners ergibt, die Bezeichnung als „Spinner“ – neben derjenigen als „Ideologen“ und „Fanatiker“ – als Sammelbegriff für Menschen, die die Geschichte nicht verstanden haben und, unbeeindruckt von den verheerenden Folgen des Nationalsozialismus, rechtsradikale – nationalistische und antidemokratische – Überzeugungen vertreten (…). Die mit der Bezeichnung als „Spinner“ vorgenommene Zuspitzung sollte den Teilnehmern an der Veranstaltung nicht nur die Unbelehrbarkeit der so Angesprochenen verdeutlichen, sondern auch hervorheben, dass sie ihre Ideologie vergeblich durchzusetzen hofften, wenn die Bürger ihnen „ihre Grenzen aufweisen“.» (Seite 451)

BVerfG bestätigt die Giga-Liner VO: Verordnung über Ausnahmen von straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften für Fahrzeuge und Fahrzeugkombinationen mit Überlänge (LKWÜberlStVAusnV).
Die Normenkontrollanträge von 214 Abgeordneten des 17. Deutschen Bundestages sowie der Bundesländer Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein sind unbegründet. Die Vorschriften der Verordnung sind von den Ermächtigungsgrundlagen des § 6 Abs. 1 StVG gedeckt. Die Zustimmung des Bundesrates zu der Verordnung war nicht erforderlich; ein Verstoß gegen Art. 80 Abs. 2 GG liegt daher nicht vor. Das Zitiergebot des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG, der Parlamentsvorbehalt und das Rechtsstaatsprinzip sind nicht verletzt. (Seite 455)

BVerfG erklärt Leitungsvorschriften für die Medizinische Hochschule Hannover wegen Verletzung der Wissenschaftsfreiheit weitgehend für verfassungswidrig
«Die mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG garantierte Mitwirkung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im wissenschaftsorganisatorischen Gesamtgefüge einer Hochschule erstreckt sich auf alle wissenschaftsrelevanten Entscheidungen. Dies sind auch Entscheidungen über die Organisationsstruktur, den Haushalt und, weil in der Hochschulmedizin mit der Wissenschaft untrennbar verzahnt, über die Krankenversorgung.
Je mehr, je grundlegender und je substantieller wissenschaftsrelevante personelle und sachliche Entscheidungsbefugnisse dem Vertretungsorgan der akademischen Selbstverwaltung entzogen und einem Leitungsorgan zugewiesen werden, desto stärker muss die Mitwirkung des Vertretungsorgans an der Bestellung und Abberufung und an den Entscheidungen des Leitungsorgans ausgestaltet sein.» (Seite 470)

BVerfG billigt den vollständigen Ausschluss von Vergütungsansprüchen von Apotheken gegen die gesetzlichen Krankenkassen bei Abgabe von Arzneimitteln unter Außerachtlassung von Rabattverträgen – „Retaxation auf Null“. (Seite 482)

BVerfG bewertet die Verwerfung einer strafprozessualen Revision durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung auch unter Berücksichtigung von Art. 6 EMRK als grundrechtskonform. (Seite 486)

BVerfG qualifiziert Verurteilung wegen wörtlicher Veröffentlichung von Teilen einer den Bf. betreffenden staatsanwaltschaftlichen Anklageschrift (§ 353d Nr. 3 StGB) im Internet als verfassungsgemäß. (Seite 489)

BVerfG stellt die familiären Bindungen von Großeltern zu ihren Enkelkindern unter den Schutz von Art. 6 Abs. 1 GG. Bei der Auswahl eines Vormundes kommt Großeltern Vorrang zu, es sei denn, dem Kindeswohl würde eine andere Entscheidung besser dienen. (Seite 493)

Parlamentarische Versammlung des Europarates mahnt Verstärkung der Unabhängigkeit des EGMR an. (Seite 496)

Bayerisches Verwaltungsgericht München richtet zur Beurteilung des Asylantrags eines US-amerikanischen Soldaten wegen Desertion zur Vermeidung eines erneuten Irak-Einsatzes Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH. (Seite 496)

EuGH-Generalanwalt Cruz Villalón sieht den Begriff der Parodie bei der Klärung einer Ausnahme vom Urheberrechtsschutz des ursprünglichen Werkes als autonomen unionsrechtlichen Begriff, d.h.: «Eine „Parodie“ im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Buchst. k der Richtlinie 2001/29 ist ein Werk, das in der Absicht der Verspottung Elemente eines bereits existierenden, wiedererkennbaren Werkes mit hinreichend originellen Elementen verbindet, so dass es vernünftigerweise nicht mit dem ursprünglichen Werk verwechselt werden kann.» Schlussanträge in der Rs. Johan Deckmyn und Vrijheidsfonds (Seite 501)