EuGRZ 2013
28. Juni 2013
40. Jg. Heft 10-12

Informatorische Zusammenfassung

Thomas von Danwitz, Luxemburg, akzentuiert die verfassungsrechtlichen Herausforderungen in der jüngeren Rechtsprechung des EuGH und antwortet dem Ersten Senat des BVerfG auf dessen ausgreifende Ultra-vires-Drohung
Zum Grundrechtsschutz im Kampf gegen den Terrorismus (restriktive Maßnahmen) führt der Autor aus: «Soweit legitime Sicherheitsinteressen einer genauen und umfassenden Offenlegung der Gründe tatsächlich entgegen stehen, muss das Verfahren der gerichtlichen Kontrolle gewährleisten, dass die Beschränkung der Verteidigungsrechte auf das strikt Notwendige begrenzt bleibt.»
Es folgen Erwägungen zur Kontrolldichte im System des europäischen Grundrechtsschutzes, zu Gesetzesvorbehalt und Demokratie auf europäischer Ebene, d.h. parlamentarische Verantwortung und politische Legitimation. Sodann geht es um Systemfragen:
«Wie die Systematik der Charta zeigt, ist ihr Erlass nicht mit dem Anspruch verbunden, den auf mitgliedstaatlicher Ebene namentlich von den Verfassungsgerichten zu gewährenden Grundrechtsschutz zu überlagern oder zu ersetzen bzw. etwaige Lücken im nationalen Grundrechtsschutz (oder das, was man dafür hält) zu schließen. Ebenso wenig soll der Grundrechtsschutz der Union den von der EMRK als allgemeinen Mindeststandard gewährleisteten Schutz ersetzen. Vielmehr dient die Charta einerseits dazu, die Grundrechtsbindung der Organe der Union ausdrücklich zu regeln und andererseits die Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Union zu binden, soweit sie das Recht der Union durchführen. (…)
Nach der Zielsetzung der Charta sind die drei Schutzsysteme der Grundrechte in Europa also nicht im Sinne einer Hierarchie angeordnet, sondern stehen entsprechend ihrer jeweils spezifischen Aufgabenstellung gleichsam nebeneinander.»
Auf die apodiktische Ultra-vires-Interpretation des Ersten Senats des BVerfG entgegnet von Danwitz nuanciert:
«Die vom Gerichtshof in der Rechtssache Åkerberg Fransson [EuGRZ 2013, 124/137]vorgenommene Auslegung dieser Vorschrift [Art.&146;51 Abs.&146;1 GRCh] hat den Ersten Senat des deutschen BVerfG in seinem Urteil vom 24. April über die Antiterrordatei [EuGRZ 2013, 174 (185, Rn. 91)] mit Blick auf eine von ihm als möglich in Betracht gezogene Lesart dieser Entscheidung zu sehr kritischen Worten veranlasst. Angesichts der besonderen délicatesse dieser Fragestellung ist es immerhin verständlich, dass die Urteile des Gerichtshofes mit kritischer Aufmerksamkeit verfolgt werden. Wie immer man die Auslegung des Art.&146;51 Abs.&146;1 der Charta durch den Gerichtshof in dieser Sache beurteilen mag, bleibt jedenfalls bedauerlich, dass diese scheinbar unterschiedlichen Standpunkte einstweilen keiner Klärung im Wege des Richterdialogs nach Art.&146;267 AEUV zugeführt wurden, zumal sich der Erste Senat auf eine von ihm anderweitig interpretierte Rechtsprechung des Gerichtshofes und sogar auf das fragliche Urteil selbst bezieht. Doch auch in dieser causa bleiben wir zuversichtlich, dass sich früher oder später eine Gelegenheit ergeben wird, das Für und Wider der unterschiedlichen Gesichtspunkte einer Beantwortung zuzuführen, welche die präföderale Balance wahrt und auf wechselseitige Akzeptanz in der Rechtsgemeinschaft der Europäischen Union trifft.» (Seite 253)

Christian Tomuschat, Berlin, setzt sich mit den Mängeln der Entscheidung des UN-Rassendiskriminierungsausschusses im „Fall Sarrazin“ auseinander
Der Autor kritisiert Lücken und Übersetzungsfehler in der Sachverhaltsdarstellung sowie das Fehlen einer nachvollziehbaren rechtlichen Subsumtion in der Begründung der Entscheidung, die Thilo Sarrazin rassistische Äußerungen in einem Zeitschriften-Interview und der Bundesrepublik Deutschland vorwirft, Sarrazin nicht strafrechtlich verfolgt zu haben.
«Die einleitenden Sätze (…) beginnen dort allerdings im ersten Absatz mit einer gravierenden Fehlübersetzung, die möglicherweise für die Gesamtbeurteilung durch den Ausschuss die Weichen gestellt hat. Thilo Sarrazin wird so wiedergegeben, als sollten die von ihm als unproduktiv kritisierten „Unterschichten“ „disappear over time“, was als Aufruf zur gezielten Verdrängung dieser Menschen aus Berlin zu interpretieren wäre. In Wahrheit hat Thilo Sarrazin gesagt: „Dieser Teil muss sich auswachsen“, was nichts anderes als Ausdruck der Erwartung ist, dass die bisher von staatlichen Wohlfahrtsleistungen lebenden Menschen sich durch natürliche Wachstumsprozesse in das Wirtschafts- und Sozialleben eingliedern werden. Hinzukommt, dass die Wendung sich keineswegs nur auf die in Berlin lebenden Immigranten bezieht, sondern auf die gesamte Bevölkerungsschicht, einschließlich der Deutschen, die bisher auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, während angesichts der allgemeinen Tendenz des Arrangements der Textwiedergabe der Eindruck entstehen kann, hier werde auf die Araber und Türken in Berlin abgehoben. Es kann natürlich von einem außenstehenden Beobachter nicht festgestellt werden, wie es zu der irreführenden Wortwahl gekommen ist. (…)
Liest man das Interview jedoch mit einer gewissen Sorgfalt, so stellt man fest, dass es Herrn Sarrazin keineswegs darum geht, Türken und Araber in besonderer Weise zu brandmarken. Sein Ausgangspunkt ist, dass es in Berlin eine breite Unterschicht gibt, die sich keine eigene wirtschaftliche Existenz aufgebaut hat, sondern von staatlichen Transferleistungen lebt. Zu dieser unproduktiven Unterschicht, zu der eine „große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt“ gehöre, zählt er sehr deutlich und unmissverständlich auch einen Teil der deutschen Bevölkerung, etwa Leute, „die einmal in den subventionierten Betrieben Spulen gedreht oder Zigarettenmaschinen bedient“ haben. Es ist nicht ohne Bedeutung, dass diese Klarstellung in dem wörtlich wiedergegebenen Textauszug nicht erwähnt wird. (…)
Es fällt letzten Endes schwer, sich auf eine nähere Auseinandersetzung mit der Entscheidung einzulassen, weil der Ausschuss es versäumt hat, ein Stück handwerklicher juristischer Arbeit zu leisten, wie man es von einem Gremium mit einer so hohen Verantwortung füglich erwarten darf. Der Ausschuss ist dem Irrtum erlegen, die platte Wiedergabe einiger Auszüge aus dem beanstandeten Interview spreche für sich selbst und bedürfe keiner Kommentierung. (…) Lediglich Ausschussmitglied Vazquez hat die Brisanz der Problematik erkannt und dem Ausschuss in Erinnerung gerufen, dass die freie Rede ein Herzstück der freiheitlichen Demokratie ist, die auch das CERD-Übereinkommen zu schützen trachtet. Mit seinem raschen Urteil und seiner Sprachlosigkeit hat der Ausschuss nicht nur sich selbst diskreditiert, sondern auch insgesamt dem Gedanken des Menschenrechtsschutzes durch internationale Sachverständigengremien schweren Schaden zugefügt.» (Seite 262)

UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (UN-CERD), Genf, wertet die Einstellung strafrechtlicher Ermittlungen gegen Thilo Sarrazin wegen Interview-Äußerungen in der Berliner Kultur-Zeitschrift „Lettre International“ als Verletzung des Übereinkommens gegen Rassendiskriminierung (CERD) / Türkischer Bund in Berlin-Brandenburg e.V. (TBB) gegen Deutschland
«Der Ausschuss erkennt die Wichtigkeit der freien Meinungsäußerung an, doch ist er der Ansicht, dass Herrn Sarrazins Äußerungen auf Verbreitung von Ideen hinausliefen, die sich auf rassische Überlegenheit oder Rassenhass gründen und Elemente eines Aufreizens zu rassischer Diskriminierung gemäß Art.&146;4 Abs.&146;(a) des Übereinkommens enthielten. Indem der Vertragsstaat auf die Tatsache abstellte, dass Herrn Sarrazins Äußerungen keine Aufstachelung zu Rassenhass enthielten und nicht geeignet seien, den öffentlichen Frieden zu stören, hat der Vertragsstaat seine Pflicht versäumt, eine effektive Untersuchung anzustellen, ob Herrn Sarrazins Äußerungen Verbreitung von Ideen bedeuteten, die sich auf rassische Überlegenheit oder Rassenhass gründen. Der Ausschuss ist ferner der Ansicht, dass das Merkmal der Störung des öffentlichen Friedens, welches bei der Bewertung der Frage in Betracht gezogen wird, ob die Äußerungen die Schwelle der Verbreitung von Ideen erreichen, die sich auf rassische Überlegenheit oder Rassenhass gründen, die Verpflichtungen des Vertragsstaates nach Art.&146;2 Abs.&146;1 (d) nicht angemessen in seine staatliche Gesetzgebung umsetzt, insbesondere weil weder Art.&146;2 Abs.&146;1 (d) noch Art.&146;4 ein solches Merkmal enthalten.
Der Ausschuss kommt daher zu dem Schluss, dass das Fehlen einer effektiven Untersuchung der Äußerungen von Herrn Sarrazin durch den Vertragsstaat eine Verletzung der Art.&146;2 Abs.&146;1 (d), 4 und 6 des Übereinkommens bedeutet.» (Seite 266)

In seiner Abweichenden Meinung führt Ausschussmitglied Carlos Manuel Vazquez u.a. aus: «Das Interview mit Herrn Sarrazin enthält Äußerungen, die bigott und anstößig sind. Das Übereinkommen verlangt jedoch nicht die strafrechtliche Verfolgung aller bigotten und anstößigen Äußerungen. (…)
Schließlich darf das Übereinkommen nicht in dem Sinne gelesen werden, dass Überlegungen der öffentlichen Ordnung für die Anwendung der Verbreitungsklausel unerheblich seien. Im Gegenteil dürfen Vertragsstaaten bei der Abwägung der Verpflichtung, Hassrede zu bekämpfen, mit dem Schutz der Meinungsfreiheit, wie sie das nach der Wendung „gebührende Berücksichtigung“ tun müssen, meines Erachtens zulässigerweise entscheiden, dass eine Strafverfolgung nur dann geboten ist, falls die Rede den öffentlichen Frieden zu stören droht.» (Seite 271)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, erklärt Individualbeschwerde gegen Glücksspielverbot im Internet (Veranstaltung und Vermittlung) für offensichtlich unbegründet und deshalb unzulässig / Tipp 24 AG gegen Deutschland
Der EGMR stellt keinerlei Verstoß gegen Art.&146;1 des 1. ZP-EMRK (Eigentum), Art.&146;10 (Meinungsfreiheit) bzw. Art.&146;14 EMRK (Diskriminierungsverbot) fest. (Seite 274)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, zum Rechtsschutz gegen Einreiseverbot für Unionsbürger (hier: GB) aus Gründen der öffentlichen Sicherheit / Rs. ZZ
Auf das Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal (England &38; Wales) hin gelangt der EuGH zu dem Ergebnis: «Es kommt insbesondere darauf an, dass dem Betroffenen jedenfalls der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen eine in Anwendung von Art. 27 der Richtlinie 2004/38 getroffene Entscheidung über ein Einreiseverbot beruht, da der erforderliche Schutz der Sicherheit des Staates nicht zur Folge haben kann, dass dem Betroffenen sein Recht darauf, gehört zu werden, vorenthalten und damit sein in Art. 31 dieser Richtlinie vorgesehenes Recht auf einen Rechtsbehelf wirkungslos wird. (…)
In bestimmten Fällen kann (…) die Offenlegung dieser Beweise die Sicherheit des Staates insoweit unmittelbar und besonders beeinträchtigen, als sie insbesondere das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit von Personen gefährden könnte oder die von den nationalen Sicherheitsbehörden speziell angewandten Untersuchungsmethoden enthüllen und damit die zukünftige Erfüllung der Aufgaben dieser Behörden ernsthaft behindern oder sogar unmöglich machen könnte. (…)
Unter diesen Umständen ist es Sache des zuständigen nationalen Gerichts, zum einen dafür zu sorgen, dass dem Betroffenen der wesentliche Inhalt der Gründe, auf denen die fragliche Entscheidung beruht, in einer Weise mitgeteilt wird, die die erforderliche Geheimhaltung der Beweise gebührend berücksichtigt, und zum anderen nach dem nationalen Recht die Konsequenzen aus einer eventuellen Missachtung dieser Mitteilungspflicht zu ziehen.» (Seite 281)

EuGH zur Klagefrist gegen Reisebeschränkungen und Einfrieren von Vermögenswerten wegen Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit durch Schüren bewaffneter Unruhen nach Präsidentenwahl in der Republik Côte d'Ivoire / Rs. Gbagbo u.a.
Der Gerichtshof betont die Wirksamkeit der Veröffentlichung der streitigen Maßnahmen im Amtsblatt der Europäischen Union anstelle einer individuellen Zustellung für den Beginn der Klagefrist. Das gilt auch für die in Afrika ansässigen Kläger. (Seite 288)

EuGH nimmt zu immobilienrechtlichen Maßnahmen gegen Gentrifizierung in Belgien (Flandern) Stellung / Rs. Libert u.a.
«Nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs können nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern oder weniger attraktiv zu machen, allerdings zugelassen werden, wenn mit ihnen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, wenn sie geeignet sind, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (…).
Die flämische Regierung macht insoweit geltend, die Voraussetzung des Bestehens einer „ausreichenden Bindung“ des potenziellen Käufers oder Mieters zu der betreffenden Gemeinde sei insbesondere durch das Ziel gerechtfertigt, den Immobilienbedarf der am wenigsten begüterten einheimischen Bevölkerung zu befriedigen (…). Dieser Teil der örtlichen Bevölkerung sei nämlich wegen der Ankunft von aus anderen Gemeinden zuziehenden Personengruppen mit größerem finanziellen Wohlstand, die den hohen Preis der Grundstücke und Bauten in den Zielgemeinden stemmen könnten, vom Immobilienmarkt ausgeschlossen.»
Das Kriterium der „ausreichenden Bindung“ des Käufers oder langfristigen Mieter an die Zielgemeinde erweist sich für den Gerichtshof als zu vage. Die sozialen Auflagen für Bauherren sowie die steuerlichen Anreize undSubventionsmechanismen sind am Ende vom nationalen Richter auf ihre Vereinbarkeit mit den Details des Unionsrechts zu prüfen. (Seite 293)

EuGH beanstandet unzureichenden Rechtsschutz gegen missbräuchliche Banken-Klauseln bei Hypothekendarlehen in Spanien / Rs. Aziz
Maßgebend ist die Verbraucherschutz-RL 93/13/EWG. Sie steht einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegen, «die im Rahmen eines Hypothekenvollstreckungsverfahrens keine Einwendungen in Bezug auf die Missbräuchlichkeit einer dem vollstreckbaren Titel zugrunde liegenden Vertragsklausel zulässt, dem für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer solchen Klausel zuständigen Gericht des Erkenntnisverfahrens aber auch nicht erlaubt, vorläufige Maßnahmen&146;– wie insbesondere die Aussetzung des genannten Vollstreckungsverfahrens&146;– zu treffen, wenn der Erlass dieser Maßnahmen erforderlich ist, um die volle Wirksamkeit seiner Endentscheidung zu gewährleisten.» (Seite 303)

Corte costituzionale, Rom, reagiert auf Änderung eines Kammer-Urteils des EGMR durch die Große Kammer
Inhaltlich geht es um Fragen der Fortpflanzungsmedizin, die in Straßburg zu einem österreichischen Gesetz entschieden wurden. Die Große Kammer hatte entgegen der Kammer einen weitreichenden Beurteilungsspielraum des nationalen Gesetzgebers anerkannt. Prozessual hat der italienische Verfassungsgerichtshof daraufhin die bei ihm anhängigen Richtervorlagen an die betreffenden Gerichte zu erneuter Erwägung zurückverwiesen. (Seite 310)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bekräftigt den Grundsatz der Justizöffentlichkeit
Der Fall betrifft den Anspruch auf Kenntnisnahme (hier: durch die Presse) eines archivierten Urteils der vormaligen Asylrekurskommission (ARK) und der Namen der an der Entscheidung beteiligten Richter. In den Erwägungen heißt es:
«Das umstrittene ARK-Urteil fällt in den Anwendungsbereich von Art.&146;30 Abs.&146;3 BV. Es ist daher von einem grundsätzlichen Anspruch auf Kenntnisnahme des umstrittenen ARK-Urteils auszugehen. Dies trifft umso mehr zu, als das Urteil nie öffentlich verkündet oder vollständig publiziert worden ist.
Die Kenntnisnahme erstreckt sich grundsätzlich auf das ganze Urteil mit Sachverhalt, rechtlichen Erwägungen und Dispositiv. Eingeschlossen ist auch der Spruchkörper. Die mit dem Öffentlichkeitsgrundsatz verbundene Kontrollfunktion durch die Rechtsgemeinschaft wäre massgeblich beeinträchtigt oder gar illusorisch, wenn die beteiligten Gerichtspersonen unbekannt bleiben könnten. Richter und Richterinnen üben ein öffentliches Amt aus, haben für die von ihnen getragenen Urteile einzustehen und sich allfälliger Kritik im Rahmen der Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz gemäss Art.&146;191c BV zu stellen.» (Seite 313)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, sieht in der Ungleichbehandlung von Verheirateten und eingetragenen Lebenspartnern beim Ehegattensplitting im Einkommensteuerrecht eine Verletzung des Gleichheitssatzes des Art.&146;3 Abs.&146;1 GG
Der Zweite Senat ordnet eine bis 2001 rückwirkende Abhilfe bei noch nicht bestandskräftigen Veranlagungen an. In der Begründung heißt es:
«Geht die Privilegierung der Ehe mit einer Benachteiligung anderer, in vergleichbarer Weise rechtlich verbindlich verfasster Lebensformen einher, obgleich diese nach dem geregelten Lebenssachverhalt und den mit der Normierung verfolgten Zwecken vergleichbar sind, rechtfertigt der bloße Verweis auf das Schutzgebot der Ehe eine solche Differenzierung indes nicht (…). In solchen Fällen bedarf es jenseits der bloßen Berufung auf Art. 6 Abs. 1 GG eines hinreichend gewichtigen Sachgrundes, der gemessen am jeweiligen Regelungsgegenstand und -ziel die Benachteiligung dieser anderen Lebensformen rechtfertigt (…).
Der besondere Schutz, unter den Art. 6 Abs. 1 GG die Ehe als besondere Verantwortungsbeziehung stellt, rechtfertigt Besserstellungen der Ehe im Verhältnis zu ungebundenen Partnerbeziehungen (…), nicht aber ohne Weiteres auch im Verhältnis zu einer rechtlich geordneten Lebensgemeinschaft, die sich von der Ehe durch die Gleichgeschlechtlichkeit der Partner unterscheidet, wegen dieses Unterschiedes mit der Ehe nicht konkurriert und dem Institut der Ehe daher auch nicht abträglich sein kann, sondern es gerade auch Personen, die wegen ihres gleichen Geschlechts eine Ehe nicht eingehen können, ermöglichen soll, eine im Wesentlichen gleichartige institutionell stabilisierte Verantwortungsbeziehung einzugehen.» (Seite 316)

In ihrer abweichenden Meinung führen Richter Landau und Richterin Kessal-Wulf u.a. aus: «Die Entscheidung des Senats können wir weder im Ergebnis noch in der Begründung mittragen. Den Verfassungsbeschwerden hätte bei Anwendung der Maßstäbe, die der Senat für sich in Anspruch nimmt, der Erfolg versagt bleiben müssen. (…) Naheliegende, Gestaltungsauftrag und -prärogative des Gesetzgebers schonende sowie die funktionale Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht respektierende Lösungsmöglichkeiten wurden durch den Senat nicht ausreichend berücksichtigt.
Der Senat verkennt, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Überarbeitung des Lebenspartnerschaftsrechts am 1. Januar 2005 nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers nicht als eine der Ehe vergleichbare Gemeinschaft von Erwerb und Verbrauch ausgestaltet war. Die Privilegierung der Ehe durch §§ 26, 26b und 32a Abs. 5 EStG war hierdurch in den vorliegend allein streitgegenständlichen Veranlagungsjahren 2001 und 2002 sachlich gerechtfertigt.» (Seite 330)

BVerfG lässt keinen Regress ad infinitum zu: «Die Mitwirkung an einer unanfechtbaren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (hier: Festsetzung einer Missbrauchsgebühr) führt nicht zu einem gesetzlichen Mitwirkungsausschluss wegen richterlicher Vorbefassung, wenn die Entscheidung folglich unzulässig vor einem Fachgericht angefochten worden ist und gegen dessen Prozessentscheidung anschließend Verfassungsbeschwerde erhoben wird.» (Seite 335)

BVerfG besteht auf gesetzlicher Grundlage für medikamentöse Zwangsbehandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Maßregelvollzug). (Seite 337)

Kanzlei des EGMR und EU-Grundrechteagentur veröffentlichen gemeinsames Handbuch zu den europarechtlichen Grundlagen im Bereich Asyl, Grenzen und Migration. (Seite 346)

Präsident des Gerichts der EU (EuG) gewährt vorläufigen Rechtsschutz gegen Verschlechterung der EU-Grenzwerte für Giftstoffe (Antimon, Arsen, Quecksilber, Barium und Blei) in Kinderspielzeug / Deutschland gegen Kommission
In dem detailliert begründeten Beschluss wird zur Interessenabwägung festgestellt: «In der Tat sind die Grenzwerte der mitgeteilten nationalen Bestimmungen, die mit denen der alten Spielzeugrichtlinie identisch sind, in der Spielzeugbranche seit Jahrzehnten bekannt und etabliert, so dass diese Branche ohne Weiteres in der Lage ist, sie umzusetzen und einzuhalten. Vor allem wäre dieser Nachteil nicht irreversibel, sondern rein vorläufiger Natur. Das Spielzeug könnte nämlich nach der Entscheidung zur Hauptsache nachträglich eingeführt und vertrieben werden. Wenn die einstweilige Anordnung hingegen nicht erginge, die Klage später aber Erfolg hätte, wäre die Gesundheit von Kindern in der Zwischenzeit möglicherweise gravierend und irreversibel beeinträchtigt worden.» (Seite 346)

EuGH-Generalanwalt Yves Bot zu Umfang und Intensität des gerichtlichen Rechtsschutzes gegen restriktive Maßnahmen wie Einfrieren von Geldern / Schlussanträge in der Rs. Kadi II
«Der unvorhersehbare Charakter und die zerstörerische Wirkung von terroristischen Handlungen zwingt die öffentliche Gewalt, alle denkbaren Vorbeugungsmaßnahmen zu treffen. Aus diesem Blickwinkel genießt der Schutz der Informationsmittel und -quellen absoluten Vorrang. (…)Gleichwohl darf der Kampf gegen den Terrorismus die Demokratien nicht dazu bewegen, ihre Grundprinzipien aufzugeben oder zu verleugnen, zu denen der Rechtsstaat gehört. Er veranlasst sie allerdings dazu, sie zu verändern, um sie zu bewahren.» (Seite 356)