EuGRZ 2015
15. Juni 2015
42. Jg. Heft 9-11

Informatorische Zusammenfassung

Jochen Abr. Frowein, Heidelberg, charakterisiert „Die Rolle der Europäischen Menschenrechtskommission bei der Entwicklung der EMRK“
Der Autor, Mitglied der Kommission von 1973 bis 1993, schärft zunächst den Blick für einige institutionelle Probleme: «Ich erinnere mich gut, wie ich geradezu empört war, als ich feststellte, dass Entscheidungen der Kommission nach der Beratung und Beschlussfassung lediglich vom Sekretariat und dem Präsidenten abgesetzt wurden und dabei häufig Argumente verwendet wurden, die in der Kommission keinerlei Rolle gespielt hatten. Schon 1974 habe ich das zum Gegenstand einer intensiven Diskussion gemacht und schnell erreicht, dass jetzt eine andere Praxis gewählt wurde. Die Kommission diskutierte von jetzt an Entscheidungsentwürfe, die vom Berichterstatter zusammen mit dem Sekretariat erstellt worden waren, und nahm auf dieser Grundlage eine Entscheidung an.
Auch fand ich, ebenso wie wohl andere jüngere Mitglieder, die Haltung der Kommission zu rechtlichen Problemen nicht immer überzeugend. Es bestand eine gewisse Neigung, schwierige Rechtsfragen möglichst gar nicht zu erörtern. Ich verwendete damals häufiger die Umschreibung, dass die Konvention eine „sleeping beauty“ sei, die zum Leben erweckt, wachgeküsst werden müsse.»
Aus den Diskussionen um Grundverständnisse bestimmter Konventionsartikel akzentuiert Frowein ausführlich die strengere Auslegung des Folterverbots durch die Kommission im Fall Irland gegen Vereinigtes Königreich. Die sog. fünf Techniken bei Vernehmungen von nordirischen Terrorismus-Verdächtigen qualifizierte die Kommission als moderne Form der Folter, während der Gerichtshof die Verletzung von Art. 3 nur als unmenschliche Behandlung wertete. Immerhin hat der Gerichtshof 20 Jahre später im Fall Selmouni gegen Frankreich seine Rechtsprechung im Sinne der Kommission geändert.
Für die Verpflichtung der Staaten, die Konventionsrechte gesetzlich zu schützen, nennt der Autor mit besonderem Nachdruck die Fälle von Transsexuellen, deren Geschlechtsumwandlung von Personenstandsbehörden hartnäckig ignoriert wurde: «Es dauerte bis 2002, bis der Gerichtshof auf die Position der Kommission einschwenkte. Das bedeutete, dass in einer wirklich zentralen Frage der Menschenwürde über 20 Jahre lang die Rechte von Transsexuellen nicht geschützt wurden, obwohl die Kommission die Verletzung eingehend dargelegt hatte.»
Zur «Pionierarbeit» der Kommission gehört auch die Ableitung von angemessenen Verfahrensrechten aus den materiellen Rechten, insbesondere bei schweren Eingriffen.
Der Beitrag geht sodann anhand einer Vielzahl von Fällen auf Probleme der systematischen Konventionsauslegung und des effet utile ein, wobei er auch die 1978 vom Gerichtshof geprägte Formel hervorhebt, die Konvention sei ein lebendiges Instrument („living instrument“).
Abschließend hält Frowein u.a. fest: «Die Konvention ist zu einem Verfassungsinstrument für ganz Europa geworden. Die Kommission hat sie bereits 1991 als „constitutional instrument of European public order in the field of human rights“ bezeichnet, dem ist der Gerichtshof später gefolgt. (…) Man kann freilich nicht übersehen, dass das Konventionssystem durch die hohe Zahl von Beschwerden, die in Straßburg anhängig sind, in ernster Weise gefährdet ist. Es ist zu hoffen, dass es gelingt, hier Abhilfe zu schaffen. Vor allem sind die Staaten aufgerufen, ihr internes System so zu gestalten, dass die Konventionsrechte von der nationalen Gerichtsbarkeit ausreichend geschützt werden.» (Seite 269)

Gabriele Britz, Karlsruhe, behandelt den „Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Gerichtshof“
Die Autorin bringt die facettenreichen Konstellationen und Probleme in eine sachlich klar zu überblickende Struktur und fasst zusammen: «Die Unionsgrundrechte können die nationalen Grundrechte auf unterschiedliche Weise verdrängen. Eine direkte Verdrängung erfolgt, sofern nationale Maßnahmen unionsrechtlich determiniert und damit „verlängertes Unionsrecht“ sind, auf das nationale Grundrechte nicht angewendet werden. Zusätzlich kommt es zu einer indirekten Verdrängung, wenn die Charta herangezogen wird, um Inhalt und Reichweite der unionsrechtlichen Determinanten in Richtlinien oder Verordnungen zu bestimmen, weil sich nationale Grundrechte wegen des Vorrangs des Unionsrechts nicht gegen den (insofern durch Unionsgrundrechte bestimmten) Richtlinien- oder Verordnungsgehalt durchsetzen.
Dabei bleiben die Anwendungsbereiche von Charta und Grundgesetz konstruktiv getrennt. Die Abgrenzung ist im Einzelfall sorgfältig unter differenzierender Betrachtung einzelner Gehalte von Unionsrecht und Umsetzungsmaßnahme durchzuführen. Sie kann nicht anhand abstrakter Überlegungen zu „dem Anwendungsbereich des Unionsrechts“ gelingen. Vielmehr muss sie von der Ratio der Anwendung der Charta auf nationale Maßnahmen her erfolgen, indem gefragt wird, inwieweit durch die Anwendung nationaler Grundrechte die einheitliche und effektive Umsetzungvon Unionsrecht gefährdet würde, oder aber der Unionsgesetzgeber insoweit selbst Divergenzen in der mitgliedstaatlichen Durchführung des Unionsrechts zugelassen hat, indem er die Regelung des Sachverhalts nicht vollständig harmonisiert hat. Nur wenn das Unionsrecht – wie das Bundesverfassungsgericht formuliert – „zwingende Vorgaben“ macht oder – wie der EuGH zuletzt in der Rechtssache Hernández formuliert hat – „bestimmte Verpflichtungen“ der Mitgliedstaaten schafft, tritt der Grundrechtsschutz durch die Charta ganz an die Stelle des nationalen Grundrechtsschutzes.
Vor allem der Unionsgesetzgeber hat es also in der Hand, mit seiner Regelungsdichte die Anwendungsbereiche der Unionsgrundrechte einerseits und der nationalen Grundrechte andererseits abzustecken und miteinander zu verzahnen. In dem Maße, in dem der Unionsgesetzgeber die Reichweite des Unionsrechts in vormals national geregelte Bereiche erstreckt, zieht dies die Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte nach sich und verdrängt dies die nationalen Grundrechte. Sofern das Unionsrecht im konkreten Fall zu weit geht, ist dies in erster Linie vom Unionsgesetzgeber, nicht vom EuGH zu verantworten. Der EuGH sollte allerdings ein Auge darauf haben, ob dem Unionsgesetzgeber für eine Vollregelung jeweils eine ausreichende Gesetzgebungskompetenz zusteht und sollte nicht seinerseits den Regelungsgehalt von Richtlinien und damit der Unionsgrundrechte auf Bereiche erstrecken, für die der Unionsgesetzgeber keine Kompetenz hat. (…)
Praktisch werden die nationalen Grundrechtsordnungen und die Unionsgrundrechte inhaltlich auf längere Sicht eher dichter zusammenrücken. (…) Je mehr eigene Grundrechtsentscheidungen des EuGH existieren, umso intensiver könnten sich umgekehrt auch die nationalen Verfassungsgerichte an EuGH-Urteilen orientieren – wie dies bereits jetzt mit der Rechtsprechung des EGMR geschieht. (…)
Im Dialog stehen die Gerichte allerdings nicht zuletzt mit ihren Entscheidungen ohnehin. Die Produktivität des Dialogs leidet nicht zwangsläufig, wenn er nicht in einem unmittelbaren Aufeinandertreffen im Rahmen eines Vorlageverfahrens erfolgt, sondern – wie regelmäßig zwischen nationalen Verfassungsgerichten und EGMR – in zeitlich versetzten, voneinander formal unabhängigen Verfahren. Entstehen dadurch vorübergehend Rechtsprechungs-Divergenzen, ist das in der Regel hinnehmbar und eröffnet sowohl den Gerichten als auch den zwischenzeitlich ihre Aufgaben wahrnehmenden Gesetzgebern Chancen, zu einer angemessenen Rechtsentwicklung beizutragen. Jedenfalls dürfte aber die Zahl der Vorlagen durch ein nationales Verfassungsgericht entgegen verbreiteter Annahme kein aussagekräftiger Indikator für dessen „Verhältnis zum EuGH“ sein.» (Seite 275)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, hält U-Haft von 5 Jahren und 8 Monaten Dauer wegen komplexer Aufklärungsschwierigkeiten (Rechtshilfeersuchen) im Ausland (Türkei) bei Terrorismus- und Mordverdacht noch für angemessen / Ereren gegen Deutschland
«Der Gerichtshof geht (…) davon aus, dass bei dem Bf. durchgehend Fluchtgefahr bestand, da er über keinen festen Wohnsitz in Deutschland und über keine hinreichenden sozialen Bindungen zur Sicherstellung seines Erscheinens vor dem Strafgericht verfügte, da ein anderer Senat des Oberlandesgerichts seine Auslieferung an die Türkei genehmigt hatte und da ein Anführer einer terroristischen Organisation nach Geheimdienstinformationen angeordnet hatte, dass der Bf. im Falle seiner Freilassung unverzüglich außer Landes gebracht werden solle. Folglich gab es für die Fortdauer der Haft des Bf. zutreffende und hinreichende Gründe. (…)
Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass (…) aufgrund der Schwierigkeiten, die mit dem Sammeln von Beweisen in verschiedenen Ländern verbunden sind, bei Strafverfahren im Rahmen der internationalen Anti-Terror-Gesetzgebung Verzögerungen unvermeidlich sind. Dennoch ist eine aktive Vorgehensweise erforderlich, um das Verfahren so weit wie möglich zu beschleunigen. Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass das Oberlandesgericht vier Mal in die Türkei gereist ist, um an der Erledigung von Rechtshilfeersuchen mitzuwirken. Daher kann nicht gesagt werden, dass die innerstaatlichen Gerichte den Grundsatz der besonderen Zügigkeit in diesem Zusammenhang nicht beachtet hätten.
In Anbetracht der obigen Erwägungen und auf der Grundlage des gesamten ihm vorliegenden Materials kann der Gerichtshof in dem Verfahren keine Zeiträume der Untätigkeit erkennen, ausgenommen die, die auf die Notwendigkeit zurückzuführen sind, Beweise mittels Rechtshilfeersuchen zu sammeln.
Der Gerichtshof stellt weiter fest, dass die Fortdauer der Untersuchungshaft des Bf. wiederholt einer Überprüfung unterlag. Bei jeder Entscheidung über die Verlängerung der Untersuchungshaft des Bf. prüften das Oberlandesgericht Düsseldorf und der Bundesgerichtshof im Lichte aller den Gerichten zur Verfügung stehenden Beweismittel die Haftgründe sorgfältig. Der Gerichtshof stellt insbesondere fest, dass das Oberlandesgericht am 4. Februar 2014 beschloss, den Bf. aus der Untersuchungshaft zu entlassen, da es sich nicht in der Lage sah, das Verfahren so zu beschleunigen, wie es in Anbetracht der Gesamtdauer der Untersuchungshaft des Bf. notwendig wäre; hierbei berief es sich ausdrücklich auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. (…)
In Anbetracht dieser Faktoren und insbesondere der gründlichen Prüfung der Haftgründe durch die innerstaatlichen Gerichte stellt der Gerichtshof fest, dass die Dauer der Untersuchungshaft des Bf., obwohl beträchtlich, immer noch als angemessen angesehen werden kann.» (Seite 282)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, zu Kriterien für den Ausschluss von Blutspenden wegen Sexualverhaltens mit hohem Übertragungsrisiko schwerer Infektionskrankheiten / hier betroffen: Homosexuelle Männer in Frankreich / Rs. Léger
«Nr. 2.1 des Anhangs III der Richtlinie 2004/33/EG (…) ist dahin auszulegen, dass das in dieser Bestimmung enthaltene Kriterium für einen Ausschluss von der Blutspende, nämlich das Sexualverhalten, den Fall erfasst, dass ein Mitgliedstaat im Hinblick auf die in diesem herrschende Situation eine dauerhafte Kontraindikation bei Blutspenden für Männer vorsieht, die sexuelle Beziehungen zu Männern hatten, wenn aufgrund der derzeitigen medizinischen, wissenschaftlichen und epidemiologischen Erkenntnisse und Daten feststeht, dass ein solches Sexualverhalten für diese Personen ein hohes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten birgt und dass es unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit keine wirksamen Techniken zum Nachweis dieser Infektionskrankheiten oder mangels solcher Techniken weniger belastende Methoden als eine solche Kontraindikation gibt, um ein hohes Gesundheitsschutzniveau der Empfänger sicherzustellen. Es ist Sache des nationalen Gerichts zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen in dem betreffenden Mitgliedstaat erfüllt sind.» (Seite 287)

EuGH billigt Nichtanerkennung eines EU-ausländischen (österreichischen) Führerscheins wegen Fahrens unter Einfluss berauschender Mittel (Cannabis) in Deutschland / Rs. Aykul
Der Gerichtshof betont, dass das Fahrverbot nicht von unbegrenzter Dauer ist. Und grundsätzlich « Außerdem erscheint die Tatsache, dass die Wiedererlangung des Rechts, in Deutschland ein Kraftfahrzeug zu führen, durch Frau Aykul von der Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, dessen Erstellung den Nachweis der Abstinenz von jeglichem Konsum berauschender Mittel während der Dauer eines Jahres voraussetzt, oder vom Ablauf eines Zeitraums von fünf Jahren abhängig gemacht wird, als ein wirksames und zum Ziel der Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr im Verhältnis stehendes Präventionsmittel. (…)
Der Mitgliedstaat, der es ablehnt, die Gültigkeit eines Führerscheins in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anzuerkennen, ist dafür zuständig, die Bedingungen festzulegen, die der Inhaber dieses Führerscheins erfüllen muss, um das Recht wiederzuerlangen, in seinem Hoheitsgebiet zu fahren. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu untersuchen, ob sich der fragliche Mitgliedstaat durch die Anwendung seiner eigenen Regeln in Wirklichkeit nicht unbegrenzt der Anerkennung des von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins entgegenstellt. In dieser Hinsicht ist es auch seine Aufgabe, zu überprüfen, ob die von den Rechtsvorschriften des erstgenannten Mitgliedstaats vorgesehenen Voraussetzungen gemäß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung des von der Richtlinie 2006/126 verfolgten Ziels, das in der Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr besteht, angemessen und erforderlich ist.» (Seite 292)

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, bestätigt Verweigerung der Befreiung vom reaktiven Sexualkundeunterricht im Kindergarten sowie in der 1./2. Primarschulklasse und sieht den Kerngehalt der Glaubens- und Gewissensfreiheit bzw. des Schutzes des Familienlebens nicht tangiert
«Gemäss Leitfaden Ziff. 3.1 [des Kantons Basel-Stadt] werden im Kindergarten die Grobziele „Förderung eines positiven Körperbewusstseins“ sowie „Stärkung des Selbstbewusstseins“ verfolgt. Für die Primarschule nennt der Leitfaden die Grobziele „Kompetenzerweiterung im Umgang mit Gefühlen und der eigenen und fremder Geschlechtlichkeit“ sowie „Sensibilisierung für Gefahren im Zusammenhang mit Sexualität“.
Die Handreichung präzisiert sodann, dass im Kindergarten und in der Primarschule kein systematischer Sexualunterricht erteilt wird. Die Thematik „Sexualität“ werde im Unterricht reaktiv aufgegriffen, d.h. die Lehrpersonen reagierten auf Fragen und Handlungen von Kindern, im Bewusstsein, dass Sexualerziehung auf dieser Altersstufe primär Aufgabe der Eltern sei.
Die Materialsammlung enthält schliesslich diverse Bücher, ein Körperpuzzle aus Holz, zwei Puppen mit erkennbaren Geschlechtsteilen eines Knaben bzw. eines Mädchens sowie Unterrichtsmaterial für die Lehrpersonen. (…)
Auch im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung ist vom Grundsatz auszugehen, dass der Unterricht im Rahmen der aufgestellten Ziele im zugrunde liegenden Lehrplan in pädagogisch angemessener Form erteilt wird.
Unter diesen Umständen liegt es auf der Hand, dass die Aufklärung über die grundlegenden Begriffe und Zusammenhänge des menschlichen Körpers und der Sexualität grundsätzlich geeignet ist, das öffentlich anerkannte Ziel der Prävention vor sexuellen Übergriffen und des Gesundheitsschutzes zu verfolgen.» (Seite 299)

Bundesverfassungsericht (BVerfG), Karlsruhe, zu den Grundsätzen der Richterbesoldung und den verfassungsrechtlich (Art. 33 Abs. 5 GG) entscheidenden fünf Parametern
Die Leitsätze des Zweiten Senats lauten: «1. Dem weiten Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers bei der praktischen Umsetzung der aus Art. 33 Abs. 5 GG resultierenden Pflicht zur amtsangemessenen Alimentierung der Richter und Staatsanwälte entspricht eine zurückhaltende, auf den Maßstab evidenter Sachwidrigkeit beschränkte verfassungsgerichtliche Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung. Ob die Bezüge evident unzureichend sind, muss anhand einer Gesamtschau verschiedener Kriterien und unter Berücksichtigung der konkret in Betracht kommenden Vergleichsgruppen geprüft werden.
2. Im Rahmen dieser Gesamtschau liegt es nahe, mit Hilfe von aus dem Alimentationsprinzip ableitbaren und volkswirtschaftlich nachvollziehbaren Parametern einen durch Zahlenwerte konkretisierten Orientierungsrahmen für eine grundsätzlich verfassungsgemäße Ausgestaltung der Alimentationsstruktur und des Alimentationsniveaus zu ermitteln.
3. Hierzu eignen sich fünf Parameter, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Alimentationsprinzip angelegt sind und denen indizielle Bedeutung bei der Ermittlung des verfassungsrechtlich geschuldeten Alimentationsniveaus zukommt (deutliche Differenz zwischen einerseits der Besoldungsentwicklung und andererseits der Entwicklung der Tarifentlohnung im öffentlichen Dienst, des Nominallohnindex sowie des Verbraucherpreisindex, systeminterner Besoldungsvergleich und Quervergleich mit der Besoldung des Bundes und anderer Länder). Ist die Mehrheit dieser Parameter erfüllt (1. Prüfungsstufe), besteht eine Vermutung für eine verfassungswidrige Unteralimentation. Diese Vermutung kann durch die Berücksichtigung weiterer alimentationsrelevanter Kriterien im Rahmen einer Gesamtabwägung widerlegt oder weiter erhärtet werden (2. Prüfungsstufe).
4. Ergibt die Gesamtschau, dass die als unzureichend angegriffene Alimentation grundsätzlich als verfassungswidrige Unteralimentation einzustufen ist, bedarf es der Prüfung, ob dies im Ausnahmefall verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein kann. Der Grundsatz der amtsangemessenen Alimentation ist Teil der mit den hergebrachten Grundsätzen verbundenen institutionellen Garantie des Art. 33 Abs. 5 GG. Soweit er mit anderen verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen oder Instituten kollidiert, ist er entsprechend dem Grundsatz der praktischen Konkordanz im Wege der Abwägung zu einem schonenden Ausgleich zu bringen (3. Prüfungsstufe). Verfassungsrang hat namentlich das Verbot der Neuverschuldung in Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG.
5. Jenseits der verfassungsrechtlich gebotenen Mindestalimentation genießt die Alimentation des Richters oder Staatsanwalts einen relativen Normbestandsschutz. Der Gesetzgeber darf hier Kürzungen oder andere Einschnitte in die Bezüge vornehmen, wenn dies aus sachlichen Gründen gerechtfertigt ist.
6. Die Festlegung der Besoldungshöhe durch den Gesetzgeber ist an die Einhaltung prozeduraler Anforderungen geknüpft. Diese Anforderungen treffen ihn insbesondere in Form von Begründungspflichten.»
Das Urteil erging auf sieben Richter-Vorlagen zur sog. „R-Besoldung“ von Richtern und Staatsanwälten. Die beanstandeten Vorschriften der Länder Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind verfassungsgemäß, die des Landes Sachsen-Anhalt verfassungswidrig. (Seite 303)

BVerfG sieht in der Unterbringung eines gewaltsam entkleideten Strafgefangenen in einem besonders gesicherten Haftraum mit permanenter Video-Überwachung eine Verletzung der Menschenwürde
Die 2. Kammer des Zweiten Senats stellt außerdem fest, dass dem betroffenen hiergegen der Zugang zu Gericht nicht unzumutbar erschwert werden darf (Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG). (Seite 326)

BVerfG beanstandet die gerichtliche Verpflichtung einer Mutter, zur Durchsetzung eines Regressanspruchs des Scheinvaters (§ 1607 Abs. 3 BGB) den Namen des möglichen biologischen Vaters zu offenbaren, als Verletzung des Schutzes der Privat- und Intimsphäre
In dem Urteil des Ersten Senats heißt es: «Die Offenbarung und Nennung von Partnern sexueller Kontakte ist mit Blick auf den Schutz der Privatsphäre der betroffenen Frauoftmals sogar noch von größerer Brisanzals der Umstand, dass es überhaupt zur außerehelichen Zeugung eines Kindes gekommen ist. Das durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht spezifisch geschützte Recht der Beschwerdeführerin, geschlechtliche Beziehungen zu einem bestimmten Partner nicht offenbaren zu müssen, war mit der Offenlegung des Mehrverkehrs nicht verbraucht und hätte bei der von den Gerichten vorzunehmenden Interessenabwägung weiter Berücksichtigung finden müssen.» (Seite 333)

BVerfG wertet die Mitteilung von Informationen aus einem laufenden familiengerichtlichen Verfahren an die Dienstbehörde des Bf. ohne dessen Wissen nicht als spruchrichterliche Tätigkeit
Nach dem Beschluss des Ersten Senats handelt es sich vielmehr um einen Justizverwaltungsakt, gegen den Anspruch auf Zugang zu Gericht besteht. (Seite 339)

BVerfG (Erster Senat) sieht in der ungleichen Grunderwerbsteuer-Pflicht bei hoheitlich erzwungener (§§ 45 ff. BauGB) und freiwilliger Baulandumlegung keinen Grund zur Beanstandung. (Seite 343)

Parlamentarische Versammlung des Europarates, Straßburg, konstituiert neuen Ausschuss zur Vorbereitung der Richter-Wahlen zum EGMR / Die Namen der von den Fraktionen nominierten 20 Mitglieder und 20 stv. Mitglieder. (Seite 348)

Sieben neue Richter in den EGMR gewählt. Es sind dies der Bulgare Yonko Grozev (49), der Serbe Branko Lubarda (59), der Andorraner Pere Pastor Vilanova (46), die Österreicherin Gabriele Kucsko-Stadlmayer (59), die Finnin Pauliine Koskelo (58), die Irin Síofra O’Leary (46) und für Liechtenstein Carlo Ranzoni (Schweizer, 49). (Seite 350)

BVerfG – Übersicht über die im Jahr 2015 u.a. zur Entscheidung anstehenden Verfahren (2. Teil und Schluss) (Seite 352)