EuGRZ 2017
18. Mai 2017
44. Jg. Heft 7-10

Informatorische Zusammenfassung

Ece Göztepe, Ankara, behandelt die Anwendung von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK in Bezug auf die Berechnung der maximalen Dauer der Untersuchungshaft im türkischen Recht
Die Autorin plädiert dafür, dass wegen Berücksichtigung der EMRK und der Straßburger Rechtsprechung das nationale Verfassungsgericht das Schutzniveau der Verfassung nicht unterschreiten solle:
«Die türkische Verfassung (TV) sieht in Artikel 38 die Grundsätze in Bezug auf Straftaten und Strafen vor. Darunter sind unter anderem das Legalitätsprinzip (Abs. 1-3), das Verwertungsverbot von rechtwidrig erlangten Beweisen (Abs. 6), die persönliche strafrechtliche Verantwortlichkeit (Abs. 7) sowie die Unschuldsvermutung bis zum rechtskräftigen Urteil (Abs. 4) zu finden. Diese Grundsätze werden durch Regelungen über die Freiheit und Sicherheit der Person in Art. 19 TV flankiert, in der z. B. in Abs. 5 die Höchstgrenze von 48 Stunden bzw. 4 Tagen zur Vorführung von festgenommenen Personen vor den zuständigen Richter festgelegt ist. Die türkische Strafprozessordnung (TStPO) geht zudem weit über diese Grundsätze als Mindestmaß hinaus und sieht z. B. anders als in manchen europäischen Ländern eine absolute Höchstgrenze für die Dauer der Untersuchungshaft vor. Gemäß § 102 TStPO darf die U-Haftdauer bei Vergehen maximal 1,5 Jahre und bei Verbrechen 5 Jahre nicht überschreiten.
Doch trotz dieser zusätzlichen gesetzlichen Garantie geht die tatsächliche Dauer des Freiheitsentzuges – wie unten im Einzelnen dargelegt wird – über diese gesetzlichen Grenzen hinaus. Der Grund für das Auseinanderdriften der Gesetzesnorm und der Rechtspraxis liegt hauptsächlich in der Norminterpretation der Fachgerichte, die die Grundsätze des nationalen Rechts mit der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vermengen, der lediglich ein Mindestmaß an Grundrechtsschutz gewährleistet, wobei Art. 53 EMRK ein Unterschreitungsverbot enthält. Der Beitrag hinterfragt dieseKombination von nationalem Recht mit dem EMRK-Schutz und geht der Frage nach, ob und inwieweit diese Rechtspraxis nach der Einführung der Verfassungsbeschwerde in der Türkei noch aufrechterhalten werden kann.»
In ihrer Schlussbetrachtung führt Göztepe aus: «Die Freiheit und Sicherheit der Person ist ein Schlüsselgrundrecht für die Inanspruchnahme weiterer Grundrechte. Die Ausweitung des Begriffes „Verurteilung“ sowohl auf eine Schuldfeststellung in erster Instanz als auch auf Auferlegung einer Strafe oder einer anderen freiheitsentziehenden Maßnahme, unterschreitet den Freiheitsschutz nach türkischem Straf- und Strafprozessrecht. Die unmittelbare Folge dieser Rechtsprechung ist, dass der Freiheitsentzug im Rechtsmittelverfahren ohne eine Obergrenze den Zustand der Unfreiheit des Beschuldigten ins Ungewisse führt und die Rechtssicherheit als eine der Hauptsäulen des Rechtsstaates untergräbt.
Das türkische Verfassungsbeschwerdeverfahren, das als Prüfungsmaßstab die Teil-Kongruenz der türkischen Verfassung und der EMRK angenommen hat, bietet dem Türkischen Verfassungsgericht eine umfangreichere Schutzmöglichkeit von Grundrechten und -freiheiten als sie derzeit vom Verfassungsgericht praktiziert wird. Dem Gericht steht im Grunde die Möglichkeit zur Verfügung, wie in den Niederlanden im Falle einer Diskrepanz zwischen dem Verfassungstext und der EMRK das Schutzniveau der Rechte auf nationaler und internationaler Ebene dahingehend zu bewahren, dass im jeweiligen Fall die für den Betroffenen günstigsten Normen und Auslegungen ausgewählt werden und somit die EMRK vorteilhafter interpretiert wird als durch den Straßburger Gerichtshof selbst.» (Seite 221)

Philip Czech, Salzburg, untersucht die Rechtsprechung des EGMR zum Recht auf Familienzusammenführung nach Art. 8 EMRK
«Der EGMR verfolgt in seiner jüngeren Judikatur zum Recht auf Familienzusammenführung einen deutlich weniger restriktiven Ansatz als in seinen ersten dazu ergangenen Urteilen. Zwar betont er nach wie vor die Souveränität der Konventionsstaaten, die durch Art. 8 EMRK grundsätzlich nicht dazu verpflichtet werden, eine Familienzusammenführung auf ihrem Territorium zu gestatten. Allerdings werden an die außergewöhnlichen Umstände, die zur Durchbrechung dieses Vorrangs der Souveränität auf dem Gebiet der Einwanderungskontrolle verlangt werden, weniger strenge Anforderungen gestellt. Wie eine Reihe von Urteilen erkennen lässt, hängt ein Anspruch auf Familiennachzug nicht länger davon ab, dass dies der einzige Weg zu einem gemeinsamen Familienleben wäre. Vielmehr ist danach zu fragen, ob der Familie ein Zusammenleben im Herkunftsstaat zumutbar ist. Das Bestehen „unüberwindbarer Hindernisse“ ist dabei zwar ein wichtiges Element, das für sich einen Anspruch auf Familiennachzug begründen kann, es ist aber keine notwendige Voraussetzung. Der EGMR nimmt vielmehr eine Interessenabwägung vor, bei der neben diesem Faktor insbesondere dem Kindeswohl erhebliches Gewicht beigemessen wird. Dessen Relevanz zeigt sich auch an der Ableitung einer prozessualen Verpflichtung aus Art. 8 EMRK, wonach die Ausländerbehörden und Gerichte gehalten sind, diesem Aspekt die gebührende Beachtung zu schenken und bei einer Verweigerung des Familiennachzugs gut zu begründen, warum die Interessen der betroffenen Minderjährigen hinter die öffentlichen Interessen an der Einwanderungskontrolle zurücktreten müssen.
Angesichts der Betonung der besonderen Umstände des Einzelfalls durch den Gerichtshof ist es nach wie vor schwierig, das Erfolgspotenzial einer Beschwerde einzuschätzen. Die Judikatur legt den Schluss nahe, dass vor allem bei besonderen familiären Konstellationen der Nachzug von Kindern durch Art. 8 EMRK geboten sein kann. Das gilt vor allem dann, wenn weitere Kinder im Gaststaat geboren und hier so gut integriert sind, dass ihnen die Ausreise in das Herkunftsland ihrer Eltern nicht zugemutet werden kann. Am anderen Ende der Skala stehen jene Fälle, in denen der Ehegattennachzug angestrebt wird, die Beziehung aber erst nach der Einreise begründet wurde. Sofern nicht ein Gleichbehandlungsaspekt hinzutritt, haben Beschwerden in solchen Konstellationen keine Aussicht auf Erfolg. Dazwischen liegt ein breites Spektrum, bei dem sich eine mögliche Verpflichtung zur Gewährung einer Familienzusammenführung tatsächlich nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls feststellen lässt und deren Gewichtung durch die Straßburger Richterinnen und Richter schwer vorhersehbar ist. Für die innerstaatlichen Behörden und Gerichte bedeutet dies in erster Linie eine Verpflichtung, eine nachvollziehbare Interessenabwägung anhand der in diesem Beitrag dargelegten maßgeblichen Kriterien vorzunehmen und ihre Entscheidung entsprechend zu begründen.» (Seite 229)

Matthias Ruffert, Berlin, würdigt das „Bundesverfassungsgericht als Akteur im Prozess der europäischen Integration“
«Gegenwärtig wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur europäischen Integration entweder en détail in ihren einzelnen Entwicklungssträngen analysiert, oder die Betrachtung bedient sich einfacher, politisch orientierter Formeln, die das Konfliktpotential mit dem EuGH, die Funktion des Gerichts im politischen System der Bundesrepublik Deutschland oder vor allem die damit verbundene Erwartungshaltung in der Bevölkerung in den Blick nehmen. Das Urteil vom 21. Juni 2016 zur verfassungsrechtlichen Kontrolle der Staatsanleihekäufe der EZB im OMT-Programm [EuGRZ 2016, 440] sollte Anlass für einen wissenschaftlichen Perspektivwechsel sein und die Rolle des Bundesverfassungsgerichts als Akteur im Prozess der europäischen Integration in den Mittelpunkt stellen.
Mit diesem Urteil ist nicht nur das konkrete Verfahren zum Abschluss gekommen – ein in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlicher verfassungsgerichtlicher Prozess, der sich aus dem nachträglich erweiterten Streitgegenstand des Verfahrens zur verfassungsrechtlichen Kontrolle des ESM-Vertrages und des Fiskalpakts entwickelt und zur ersten Vorlage des BVerfG an den EuGH [EuGRZ 2014, 141] geführt hatte. Im OMT-Urteil führt das BVerfG auch seine Rechtsprechung zu Kontrollmaßstäben und Kontrollgegenstand im europarechtlichen Kontext zusammen, vorbereitet durch andere grundlegende Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit. Anders als man seinerzeit hätte vermuten können, markiert das Lissabon-Urteil vom 30. Juni 2009 [EuGRZ 2009, 339] keinen Schlusspunkt, sondern steht mitten in den Entwicklungssträngen mehrerer Rechtsprechungslinien, die sich seither durch eine verhältnismäßig große Anzahl grundlegender Entscheidungen verbreitert und verdichtet haben. Das Ergebnis ist eine beeindruckende Bereichsdogmatik mit subsumtionsfähigen Einzelaussagen (…).
Der Perspektivwechsel auf die Akteursrolle des BVerfG ist auch für eine Fortführung der Entwicklungslinien offen, wie sie sich vor allem im CETA-Eilurteil vom 13. Oktober 2016 [EuGRZ 2016, 584] abzeichnet, und sie bezieht punktuell den rechtsvergleichenden Blick auf andere europäische Verfassungsordnungen ein. Das BVerfG agiert dabei im Außenverhältnis zur EU (und der internationalen Gemeinschaft) einerseits sowie im Innenverhältnis zu den übrigen Bundesorganen andererseits. Im Laufe der Zeit haben durch die Rechtsprechungsentwicklung viele Problemlagen ein gehöriges Maß an Schärfe verloren. Dies wird vor allem durch eine europarechtsfreundliche Ausdifferenzierung des Konzepts der Integrationsverantwortung erreicht. Allein die dogmatische wie verfassungspolitische Kritik an der weiten Öffnung der Verfassungsbeschwerdebefugnis ist eher zu intensivieren als zu reduzieren.»
Der Autor gelangt zu folgendem Schluss: «Weder scheint das Gericht zu wollen, dass sich Verwerfungen wie nach dem Lissabon-Urteil wiederholen, noch ist die Europarechtslehre an realitätsfremden Theoriegebäuden interessiert. Allein die Indienstnahme eines „Anspruchs auf Demokratie“ für die politische Positionierung bereitet weiterhin erhebliche Sorge.» (Seite 241)

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, sieht in der Pflicht zur Teilnahme am (bis zur Pubertät) gemischtgeschlechtlichen obligatorischen Schwimmunterricht auch für muslimische Schülerinnen im Kanton Basel-Stadt keine Verletzung der Religionsfreiheit / Osmanoğlu und Kocabaş gegen Schweiz
Der EGMR bestätigt hiermit die entsprechenden Urteile des Appellationsgerichts Basel-Stadt und des Schweizerischen Bundesgerichts: «Der Gerichtshof hält es für erwiesen, dass der Sportunterricht – zu dem das Schwimmen als integraler Bestandteil gehört – in der von den Töchtern der Bf. besuchten Schule von herausragender Bedeutung für die Entwicklung und Gesundheit der Kinder ist. Dies vorausgesetzt, beschränkt sich die Bedeutung dieses Unterrichts nicht darauf, dass die Kinder schwimmen lernen und eine körperliche Aktivität ausüben, sondern sie liegt vor allem in dem Umstand, diese Aktivität gemeinsam mit allen anderen Schülern auszuüben, ohne jede Ausnahme aufgrund der Herkunft der Kinder oder der religiösen oder philosophischen Überzeugungen ihrer Eltern. (…)
Der Gerichtshof stellt fest, dass die Behörden im vorliegenden Fall den Bf. bedeutsame Zugeständnisse gemacht haben, deren Töchter insbesondere die Möglichkeit hatten, ihre Körper während des Schwimmunterrichts durch das Tragen eines Burkinis zu bedecken. Die Bf. haben jedoch vorgebracht, dass das Tragen eines Burkinis eine stigmatisierende Wirkung auf ihre Töchter hätte. In diesem Punkt teilt der Gerichtshof die Auffassung der Regierung, wonach die Bf. keinerlei Beweis für diese Behauptung erbracht haben. Der Gerichtshof merkt an, dass sich die Töchter der Bf. überdies ohne die Gegenwart von Jungen entkleiden und duschen konnten. Der Gerichtshof akzeptiert, dass diese Begleitmaßnahmen dazu geeignet waren, die streitige Wirkung der Teilnahme der Kinder am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht auf die religiösen Überzeugungen ihrer Eltern zu mindern. (…)
Die den Betroffenen auferlegten Bußgelder belaufen sich auf eine Höhe von 350,– SFr. für jeden der Bf. und jede der Töchter, d.h. insgesamt 1.400,– SFr [ca. 1.292,- Euro]. Der Gerichtshof ist der Ansicht, dass diese Bußgelder, welche die zuständigen Behörden auferlegt haben, nachdem sie die Bf. ordnungsgemäß gewarnt haben, verhältnismäßig zum verfolgten Zweck sind, nämlich sicherzustellen, dass die Eltern ihre Kinder zum Pflichtunterricht schicken und dies vor allem in ihrem eigenen Interesse an einer erfolgreichen Sozialisierung und Integration ihrer Kinder.» (Seite 249)

EGMR beurteilt die Verweigerung einer Drogensubstitutionsbehandlung eines jahrzehntelang heroinabhängigen Strafgefangenen als unmenschliche Behandlung i.S.v. Art 3 EMRK / Wenner gegen Deutschland
Der Gerichtshof kommt zu dem Ergebnis, «dass der betroffene Staat nicht glaubhaft und überzeugend darlegen konnte, dass dem Bf. in der Haft umfassende und angemessene medizinische Versorgung auf einem Niveau zuteil wurde, das dem entspricht, an das sich die staatlichen Stellen bei der Versorgung von in Freiheit befindlichen Personen, denen Substitutionsbehandlung zur Verfügung steht, gebunden sehen».
Ferner war versäumt worden, einen unabhängigen Fachmediziner hinzuzuziehen: «Der betroffene Staat ist daher seiner positiven Verpflichtung aus Art. 3 nicht nachgekommen.» (Seite 260)

EGMR erklärt Menschenrechtsbeschwerde einer amtsenthobenen türkischen Richterin wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs für unzulässig / Çatal gegen Türkei
Der Gerichtshof verweist auf den im Januar 2017 neu eröffneten Rechtsbehelf zum Staatsrat, geregelt in RVO mit Gesetzeskraft Nr. 685, die am 23. Januar 2017 im Amtsblatt veröffentlicht wurde. Die Fristzur Anrufung des Staatsrats beträgt 60 Tage und würde im vorliegenden Fall, gerechnet vom Datum der Veröffentlichung im Amtsblatt am 24. März 2017 enden. Die Unzulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 7. März 2017 wurde schriftlich zugestellt.
In der Begründung heißt es: «Der Gerichtshof erinnert hier an seine subsidiäre Rolle gegenüber den innerstaatlichen Systemen zum Schutz der Menschenrechte (…) und ist der Auffassung, dass der Bf. eine neue Bestimmung zur Verfügung steht, die es ihr erlaubt, den innerstaatlichen Gerichten die Gelegenheit zu geben, der behaupteten Verletzung von Bestimmungen der Konvention auf innerstaatlichem Niveau abzuhelfen (…). Es kommt hinzu, dass es sich um eine neue Bestimmung handelt, die mit dem spezifischen Ziel eingeführt wurde, einen Rechtsbehelf zu schaffen, der dazu geeignet ist, eine problematische Situation zu bereinigen, die auf einer rechtlichen Kontroverse bzgl. der richterlichen Kontrolle von Amtsenthebungsmaßnahmen gegenüber Richtern beruht; hier besteht ein Interesse daran, die innerstaatlichen Gerichte anzurufen, um es ihnen zu ermöglichen, die fragliche Bestimmung anzuwenden (…).
Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass die vom Staatsrat getroffenen Entscheidungen ihrerseits vor dem Verfassungsgericht mit der Individualbeschwerde angegriffen werden können und dass, nachdem das Verfassungsgericht angerufen wurde und es seine Entscheidungen getroffen hat, jedermann – sofern erforderlich – den EGMR mit einer auf die Konvention gestützten Rüge anrufen kann.» (Seite 270)

Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Luxemburg, erklärt Verbot des islamischen Kopftuchs am Arbeitsplatz mit Kundenkontakt (Rezeptionistin) wegen genereller Neutralitätsregel des Unternehmens für zulässig / Rs. G4S Secure Solutions
Die Große Kammer des EuGH führt aus: «Im vorliegenden Fall bezieht sich die im Ausgangsverfahren in Rede stehende interne Regel auf das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, philosophischer oder religiöser Überzeugungen und gilt damit unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen. Daher ist davon auszugehen, dass nach dieser Regel alle Arbeitnehmer des Unternehmens gleich behandelt werden, indem ihnen allgemein und undifferenziert u.a. vorgeschrieben wird, sich neutral zu kleiden, was das Tragen solcher Zeichen ausschließt.
Den Akten, die dem Gerichtshof vorliegen, ist insoweit nicht zu entnehmen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende interne Regel auf Frau Achbita anders angewandt worden wäre als auf jeden anderen Arbeitnehmer.
Daher ist im Ergebnis festzustellen, dass eine interne Regel wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende keine unmittelbar auf der Religion oder der Weltanschauung beruhende Ungleichbehandlung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 begründet.» (Seite 273)

EuGH sieht in dem zeitweiligen Verbot des islamischen Kopftuchs wegen eines Kundenwunsches eine nach RL 2000/78/EG unzulässige Diskriminierung aus religiösen Gründen / Rs. Bougnaoui u.a.
Die Große Kammer des EuGH stellt fest, «dass der Begriff „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ im Sinne dieser Bestimmung [Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG] auf eine Anforderung verweist, die von der Art der betreffenden beruflichen Tätigkeit oder den Bedingungen ihrer Ausübung objektiv vorgegeben ist. Er kann sich hingegen nicht auf subjektive Erwägungen wie den Willen des Arbeitgebers, besonderen Kundenwünschen zu entsprechen, erstrecken». (Seite 277)

Zum islamischen Kopftuch und weiteren Aspekten der Religionsfreiheit cf. die ausführlichen Fundstellennachweise in der Anm. d. Red. auf S. 281 f. (in diesem Heft).

EuGH verneint einen unionsrechtlichen Anspruch eines Drittstaatsangehörigen (hier: Syrer) auf Erteilung eines humanitären Visums zur Stellung eines Asylantrags (in Belgien) / Rs. X und X
Die Große Kammer des EuGH hält Art. 25 der VO (EG) Nr. 810/2009 für nicht anwendbar. Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts sei allein das nationale Recht maßgebend. (Seite 282)

EuGH verweist auf den nationalen Gesetzgeber für Zugangsbeschränkungen zum bisher zeitlich unbegrenzten Eintrag des alleinigen Geschäftsführers eines 1992 insolvent gegangenen Immobilienunternehmens / Rs. Manni
Der Kläger des Ausgangsverfahrens möchte die Tatsache, dass er der alleinige Verantwortliche (Geschäftsführer und Liquidator) für ein insolvent gegangenes Unternehmen war, gelöscht, anonymisiert oder in der Offenlegung eingeschränkt haben, da er fürchtet, dass sich die Immobilien einer von ihm neu errichteten Ferienanlage nicht veräußern ließen, wenn die frühere Insolvenz bekannt würde. Der EuGH betont indessen im Zusammenhang mit den RL 95/46/EG und 68/151/EWG das berechtigte Interesse potenzieller Käufer, über diese Informationen zu verfügen. (Seite 287)

Gericht der Europäischen Union (EuG), Luxemburg, erklärt sich für unzuständig, die „Erklärung EU-Türkei“ vom 18. März 2016 über die Rückführung von über die Türkei auf griechischen Inseln ankommenden irregulären Migranten zu prüfen / Rs. NG
Auf Einrede des beklagten Europäischen Rates stellt das EuG fest: «Nach alledem kann die mittels der Pressemitteilung Nr. 144/16 verbreitete Erklärung EU-Türkei – unabhängig davon, ob sie, wie der Europäische Rat, der Rat und die Kommission geltend machen, eine Erklärung politischer Art ist oder vielmehr, wie der Kläger vorbringt, eine zur Erzeugung verbindlicher rechtlicher Wirkungen geeignete Handlung – weder als eine vom Europäischen Rat oder von einem anderen Organ, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union vorgenommene Handlung noch als Anhaltspunkt für das Vorliegen einer solchen, der angefochtenen Handlung entsprechenden Handlung angesehen werden.
Der Vollständigkeit halber ist in Anbetracht der Bezugnahme in der Erklärung EU-Türkei darauf, dass „die EU und die [Republik] Türkei … zusätzliche Maßnahmen vereinbart haben“, festzustellen, dass es sich, selbst wenn bei dem Treffen am 18. März 2016 informell eine internationale Übereinkunft geschlossen worden sein sollte – was im vorliegenden Fall vom Europäischen Rat, vom Rat und von der Kommission bestritten worden ist –, dabei um eine von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Union und dem türkischen Ministerpräsidenten geschlossene Übereinkunft handeln würde.
Im Rahmen einer Klage nach Art. 263 AEUV ist das Gericht aber nicht befugt, über die Rechtmäßigkeit einer von den Mitgliedstaaten geschlossenen internationalen Übereinkunft zu entscheiden.» (Seite 293)
Gegen diesen Beschluss wurde inzwischen wie auch gegen die Beschlüsse in zwei Parallelverfahren Rechtsmittel eingelegt.

Schweizerisches Bundesgericht (BGer), Lausanne, verlangt bei der Anfechtung einer ausländerrechtlichen Wegweisungsverfügung im Anwendungsbereich von Art. 2 und 3 EMRK (Recht auf Leben und Folterverbot) eine sorgfältige und hinreichend schnelle Prüfung
Eine lediglich provisorische Prüfung ist unzureichend und vereitelt das Recht des Beschwerdeführers nach Art. 13 i.V.m. Art. 3 EMRK auf eine wirksame Beschwerde. Deshalb ist die aufschiebende Wirkung wieder herzustellen. (Seite 300)

Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Karlsruhe, nimmt Verfassungsbeschwerde gegen einen Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten in Oberhausen mangels Selbstbetroffenheit des Bf. nicht zur Entscheidung an
In einem obiter dictum allerdings heißt es: «Soweit ausländische Staatsoberhäupter oder Mitglieder ausländischer Regierungen in amtlicher Eigenschaft und unter Inanspruchnahme ihrer Amtsautorität in Deutschland auftreten, können sie sich nicht auf Grundrechte berufen. Denn bei einer Versagung der Zustimmung würde es sich nicht um eine Entscheidung eines deutschen Hoheitsträgers gegenüber einem ausländischen Bürger handeln, sondern um eine Entscheidung im Bereich der Außenpolitik, bei der sich die deutsche und die türkische Regierung auf der Grundlage des Prinzips der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Nr. 1 der Charta der Vereinten Nationen) begegnen.» (Seite 303)

BVerfG nimmt Vb. einer muslimischen Schülerin gegen die Pflicht zur Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht unter Hinweis auf eine mögliche Ganzkörper-Schwimmbekleidung (Burkini oder Haschema) nicht zur Entscheidung an, weil die Bf. sich zudem nicht in genügender Weise mit den Gründen der angegriffenen Entscheidung auseinandersetzt. (Seite 303)

BVerfG sieht keinen Anlass, dem Bf. einen pränatal zugeordneten Vaterschaftsstatus für mehrere in einer kalifornischen Fortpflanzungsklinik kryokonservierte Embryonen zu gewähren. (Seite 307)

BVerfG gibt bei der Bildberichterstattung über einen Prominenten (Wettermoderator) im öffentlichen Raum (Straße) der Pressefreiheit den Vorrang, während es in einem zweiten Beschluss – bei einem Foto, das den Wettermoderator im von außen nur eingeschränkt einsehbaren Innenhof des Kanzleigebäudes seiner Verteidigerin zeigt – räumliche Privatheit als gegeben ansieht und das allgemeine Persönlichkeitsrecht Vorrang hat. (Seiten 308 und 311)

Richterforum des EuGH mit den Präsidenten der nationalen Höchstgerichte und Erklärung zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge. (Seite 311)

BVerfG – Übersicht über die im Jahr 2017 u.a. zur Entscheidung anstehenden Verfahren. (Seite 312)